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Album der Woche – François-Xavier Roth dirigiert Gustav Mahlers "Titan"

Der französische Dirigent François-Xavier Roth ist nicht nur Kölner Opernchef – dem Originalklang spürt er mit seinem eigenen Orchester Les Siècles nach, das er auf dem Instrumentarium der jeweiligen Epoche spielen lässt. Jetzt hat sich Roth mit seinem Ensemble erstmals an Gustav Mahler gewagt – und die Erste Symphonie in einer Vorstufe eingespielt, die Mahler unter dem Titel "Titan. Eine Tondichtung in Symphonieform" 1893 in Hamburg vorgestellt hat.

CD-Cover: François-Xavier Roth dirigiert Mahlers "Titan" | Bildquelle: harmonia mundi

Bildquelle: harmonia mundi

Das Album der Woche zum Anhören

"Wie ein Naturlaut" – so sollte laut Gustav Mahler sein programmatisches Heldenepos "Titan" anfangen. François-Xavier Roth geht bei seiner Interpretation noch weiter: Als sei’s Avantgarde von György Ligeti, schichtet er aus dem Nichts behutsam gläserne Klangflächen im Raum auf. Im rekonstruierten Klangbild von Les Siècles verschießt Roth sein Pulver aber nicht vorzeitig, sondern verdichtet den Klangstrom bedächtig. Um nach dem Erwachen der Natur den Einzug des Frühlings umso triumphaler auszuspielen: Die alten Hörner schmettern, dass es eine wahre Freude ist!

Schlichtes Liebeslied

Die hier eingespielte zweite Fassung von Mahlers Erstling dokumentiert eine wichtige Zwischenstufe zwischen Tondichtung und Symphonie. Da fügt sich auch das schlichte Liebeslied "Blumine" als naiver Mosaikstein schlüssig in die musikalische Erzählung ein. Dass Mahler den idyllischen Satz später verwarf, mag man bedauern, wenn man ihn so anmutig präsentiert bekommt wie von Les Siècles.

Kurz und bündig

Dieses Album wird lieben, wer …
… Mahlers Musik bislang vielleicht bombastisch oder sentimental fand.

Dieses Album lohnt sich, weil …
… Mahlers Erste Symphonie hier in einer aufschlussreichen, selten gespielten Vorstufe zu erleben ist.

Dieses Album ist ein Hörgenuss, weil …
… der später verworfene "Blumine"-Satz in dieser schlanken Interpretation wunderschön und gar nicht kitschig klingt.

Leicht, griffig, geschmeidig

Die im Vergleich zur Endversion luftigere Instrumentation des "Titans" kommt Roth und seinem historischen Orchester generell entgegen. Alles wirkt leichter, griffiger, geschmeidiger – die Tanzweisen im Scherzo, die Mahler der österreichischen Volksmusik entnommen hat, springen einen direkt an.

Blaskapele und Klezmerband

Im folgenden "Totenmarsch" erprobt Mahler erstmals seine revolutionäre Collagetechnik, wenn er den Kanon vom "Bruder Jakob" mit dem Sound einer Blaskapelle oder mit Klezmermusik verschneidet. Roth und seine Musiker kosten den doppelbödigen Charakter zwischen Trauer und Ironie genüsslich aus.

Direkt ins Inferno

Das Finale führt dann erst einmal direkt ins Inferno, bevor es zu einem turbulenten Kehraus kommt. Roth zügelt das Pathos, achtet auf Prägnanz und Durchhörbarkeit. Wer bei Mahler den satten Klang moderner Orchester gewohnt ist, den mag Roths Entschlackungskur befremden. Herber und fragiler wirkt das Klangbild, dafür legt Roth Mahlers Poesie frei. Und außerdem ermöglicht dieser "Titan" einen spannenden Blick in die Werkstatt des Komponisten: Wir erleben Mahler beim Experimentieren auf seinem bahnbrechenden Weg in die Moderne.

François-Xavier Roth dirigiert Mahler

Gustav Mahler:
"Titan", Eine Tondichtung in Symphonieform in zwei Teilen und fünf Sätzen für großes Orchester (Hamburger Version von 1893)

Les Siècles
Leitung: François-Xavier Roth

Label: harmonia mundi

Sendung: "Piazza" am 29. Juni 2019, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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