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Album der Woche – Santtu-Matias Rouvali dirigiert Jean Sibelius' zweite Symphonie

Die Anzahl der erfolgreichen Dirigenten, die aus Finnland kommen, ist beeindruckend. Und der Strom reißt nicht ab. Santtu-Matias Rouvali ist 34 und bereits seit drei Jahren Chefdirigent der renommierten Göteborger Symphoniker. Bei den Berliner und Münchner Philharmonikern hat er umjubelte Debüts gegeben, demnächst wird er zusätzlich Chef des Philharmonia Orchestra. Mit seinen Göteborgern arbeitet Rouvali an einer Gesamteinspielung der Symphonien des Vaters der Finnischen Musik: Jean Sibelius. Letztes Jahr kam die Erste heraus, nun ist die Zweite erschienen.

CD-Cover Santtu-Matias Rouvali dirigiert: Sibelius – Symphonie Nr. 2 | Bildquelle: Alpha Classics

Bildquelle: Alpha Classics

Was hören wir, wenn die Zweite Symphonie von Jean Sibelius erklingt? Den Freiheitskampf des finnischen Volkes gegen die russische Fremdherrschaft? Die Geschichte des Frauenhelden Don Juan? Oder doch die persönlichen Probleme zweier seiner Schwägerinnen?

Freiheitskampf oder Familientragödie?

So absurd es klingen mag: Für alle drei Deutungen gibt es gute Argumente. Sibelius verwendete für seine Zweite Symphonie Skizzen einer geplanten Symphonischen Dichtung über Don Juan. Gleichzeitig ließ er seine Frau wissen, dass er in dieser Musik die Erkrankung und Genesung seiner einen Schwägerin und den Selbstmord einer anderen verarbeitet habe. Der Dirigent der Uraufführung brachte die Deutung auf, dass das Stück den Freiheitskampf der Finnen gegen den russischen Zaren ausmalt. Mit der Story wurde das Werk populär.

Kurz und bündig

Dieses Album hat gefehlt, weil …
… Sibelius‘ Zweite oft im komfortablen Vollfett-Sound verharmlost wird.

Dieses Album lohnt sich, weil …
… Santtu-Matias Rouvali sein technisch exzellentes Orchester aus der Reserve lockt und die heftigen Emotionen dieser Musik zum Sprechen bringt.

Dieses Album führt bei Überdosis zu …
… finnischer Schweigsamkeit.

Pures Klangereignis

Irgendwann übernahm Sibelius selbst diese Deutung – und erläuterte sogar den Inhalt einzelner Sätze mit detaillierten Stichworten wie "Die Mühe der Arbeiterklasse", "Nationaler Widerstand" oder "Freies Vaterland". Was nichts daran ändert, dass alle diese Erklärungen inoffiziell waren – der Titel war und blieb ganz abstrakt: Symphonie Nr. 2. Kann man die widersprüchlichen Deutungen also getrost vergessen und die Musik einfach als pures Klangereignis genießen?

Gleichgültigkeit wäre tödlich

Nein – denn sicher ist: Hier wird von menschlichen Leidenschaften erzählt, von tragischen und dramatischen Ereignissen, von Lebensgeschichten, Niederlagen und Siegen. Welche es sind, kann sich jede Hörerin und jeder Interpret selbst aussuchen. Nur eines ist tödlich für diese Musik: Gleichgültigkeit. Und da Sibelius‘ Zweite ein effektvolles Stück ist und mit Abstand seine populärste Symphonie, wird sie sehr oft im Konzert gespielt. Und leider hört man sie häufig genauso: klangsatt, aber weichgespült – als lauwarmes spätromantisches Schaumbad.

Technische Präzision und klangliche Schönheit

Ganz anders macht es der junge finnische Dirigent Santtu-Matias Rouvali. Der 34-Jährige ist seit 2017 Chef des Göteborger Symphonieorchesters – und die technische Präzision und klangliche Schönheit dieses Orchesters sind absolut verblüffend. Die Göteborger hatten schon immer einen guten Ruf. Aber was man hier hört, ist wirklich Weltklasse. Die Instrumentengruppen können je nach Kontext zum wunderbar satten Tutti verschmelzen oder in unverwechselbaren Farben hervortreten. Vor allem die Blechbläser klingen nicht nur satt, sondern aufregend dunkel und charaktervoll.

Risiko und Emotionen

Viel wichtiger noch: Rouvali ist ein impulsiver Musikant, einer, der mit Tempofreiheiten zaubert, der was riskiert und Emotionen weckt. Der auch Brüche offenlegt und die Schmerzen spüren lässt, von denen diese Musik spricht. Ja, hier werden nicht nur angenehme Klänge produziert und hübsche Themen aneinandergereiht – stattdessen werden Geschichten erzählt, die manchmal verstören, die überraschen, die aber noch in den eigenwilligsten Momenten auf rätselhafte Weise stimmig und folgerichtig erscheinen – einfach, weil sie mitreißen.

Unmittelbar gegenwärtig und offen

Wenn man diese Musik so hört, dann erledigt auch schnell die Frage, ob Sibelius damit nun wirklich den finnischen Freiheitskampf schildert oder doch irgendwelche Familienprobleme. So gespielt, wird seine Zweite Symphonie unmittelbar gegenwärtig und offen für unsere eigenen Geschichten. Denn eins sicher: Woran auch immer Sibelius gedacht hat – seine Musik erzählt vom Leben.

Santtu-Matias Rouvali dirigiert Sibelius

Jean Sibelius:
Symphonie Nr. 2 D-Dur, op. 43
Suite aus "König Christian II", op. 27

Göteborger Symphonieorchester
Leitung: Santtu-Matias Rouvali

Label: Alpha Classics

Sendung: "Piazza" am 29. Februar 2020, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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