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Album der Woche – Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert Mieczysław Weinberg: "Kaddish"

Mirga Gražinytė-Tyla zählt zu den vielversprechendsten jungen Dirigentinnen. Seit drei Jahren leitet sie das City of Birmingham Orchestra. Außerdem ist sie die erste Dirigentin, die von der Deutschen Grammophon mit einem Exklusivvertrag geadelt wurde. Für ihre Debüt-Einspielung hat sich Gražinytė-Tyla gleich ein ziemlich spezielles Programm ausgesucht: zwei Symphonien von Mieczysław Weinberg. Ein Großer des 20. Jahrhunderts, der erst in letzter Zeit wiederentdeckt wird. Auch und besonders von Gidon Kremer, den Gražinytė-Tyla für ihre Aufnahme mit an Bord geholt hat.

CD-Cover: Mirga Grazinyte-Tyla dirigiert Weinberg | Bildquelle: Deutsche Grammophon

Bildquelle: Deutsche Grammophon

Das Album der Woche zum Anhören

Knapp eine Stunde Musik, das ist eine Symphonie, ein Satz, ein Mann – und der hatte ein Thema: "dem Andenken der im Warschauer Ghetto Ermordeten". So notierte es Mieczysław Weinberg auf die Partitur seiner vorletzten Symphonie. Sie ist eine Art musikalisches Vermächtnis, 1991, wenige Jahre vor seinem Tod vollendet und dem Sujet gewidmet, das den Komponisten lebenslang umtreibt: dem Holocaust, dem sämtliche seiner Angehörigen zum Opfer fielen. Nur Weinberg selbst konnte rechtzeitig fliehen. Von Warschau nach Minsk, und schließlich nach Moskau. Dort entfachte er einen wahren Schaffensfuror, komponierte unter anderem 17 Streichquartette und nicht weniger als 22 Symphonien. Darunter auch jene Nummer 21, die sich Mirga Gražinytė-Tyla für ihre Debüt-Aufnahme ausgesucht hat.

Abwechslungsreich, verschachtelt, gebrochen

Episch ist diese Musik, so abwechslungsreich, verschachtelt, gebrochen wie es eigentlich nur Romane sein können. Diese dicken Wälzer, die ganze Generationengemälde entwerfen. Immer mit Blick fürs Allgemeine, aber zugleich sensibel für den Einzelnen, mit seinen individuellen Wünschen und Hoffnungen, Ängsten und Enttäuschungen. Man könnte auch einfach sagen: das Menschliche.

Kurz und bündig

Dieses Album hat gefehlt, weil ...
... es einen großen Komponisten des 20. Jahrhunderts in Erinnerung ruft.

Dieses Album hört man am besten ...
... mit Kopfhörern, die Hand am Lautstärkeregler, um im Bedarfsfall auch den leisen, feinen und fernen Klängen hinterherzuhorchen.

Dieses Album wird lieben, wer ...
... Schostakowitsch und Pärt mag.

Mehr jenseits als diesseits

Und das blitzt immer wieder auf in Weinbergs Musik. "Kaddish" ist schon deshalb keine klassische Symphonie, weil es nur so wimmelt von solistischen oder kammermusikalischen Passagen. Momente, in denen sich der riesige Orchesterapparat plötzlich zurückzieht, um der Bratsche, der Klarinette, dem Kontrabass einzeln das Wort zu erteilen. Mal ganz nah am Ohr, in drängendem, ja, flehendem Tonfall, dann wie von weiter Ferne, mehr jenseits als diesseits, mehr Erinnerung, Gedankenspuk, als wirklicher Klang, aber nie wirklich allein. Da ist immer dieses Hintergrundrauschen, ein bedrohliches, statisches Summen und Brummen, das noch den unschuldigsten Dreiklang ins Zwielicht taucht, immer bereit anzuschwellen, zu einem kollektiven Schrei, einem schillernd-kreischen Orchestertutti.

Packende Präzision

Dieses Wechselspiel von Nähe und Ferne, Vordergrund und Hintergrund lässt einen ganz anderen Vergleich passend erscheinen. Nicht den Roman, das Buch, sondern das Bild. Wie ein Maler bietet Weinberg alles auf alles auf, was er hat und kann, um seinem Sujet gerecht zu werden: Bleistift, Aquarell, Kohle, Öl. Dem City of Birmingham Orchestra und der Kremerata Baltica unter Mirga Gražinytė-Tyla gelingen diese Farb- und Pinselwechsel so packend präzise, so verblüffend ansatzlos, dass man versucht ist, immer wieder vor und zurück zu spulen.

 Heitere Zweite

Gegen dieses hochdramatische, existentielle Werk kommt Weinbergs Symphonie Nr. 2, das zweite Werk dieser Einspielung, fast leichtgewichtig daher. Heiter und pastoral. Kaum zu glauben, dass Weinberg diese Musik um 1945 herum schrieb, zu einer Zeit also, die für ihn sicher alles andere als leicht gewesen sein dürfte. Vielleicht noch zu gegenwärtig, um sich künstlerisch damit auseinanderzusetzen. Getan hat er es fünfzig Jahre später dann doch. Zum unserem Glück, wie Mirga Gražinytė-Tyla mit ihrer Debüt-Einspielung eindrucksvoll beweist.

Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert Weinberg

Mieczysław Weinberg:
Symphonien Nr. 2 & 21 "Kaddish"

Gidon Kremer (Violine)
City of Birmingham Orchestra
Kremerata Baltica
Leitung und Sopran: Mirga Gražinytė-Tyla

Label: Deutsche Grammophon

Sendung: "Piazza" am 22. Juni 2019, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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