BR-KLASSIK

Bildquelle: Oehms Classics

Der CD-Tipp zum Nachhören

Dialogkantaten von Bach

"Als die Leipziger Bürger am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1725 zum Gottesdienst in der Thomaskirche gingen, bekamen sie eine gänzlich unweihnachtliche, schmerzliche Musik zu hören. Ob sie erstaunt waren? Vermutlich nicht. Wer jeden Sonn- und Festtag in den Genuss einer eineinhalbstündigen, intellektuell ausgefeilten Predigt eines eifrigen lutherischen Pastors kam, dürfte im Laufe von Jahren ein Gespür für gewisse theologische Subtilitäten entwickelt haben müssen. Der 26. Dezember nämlich ist in der altkirchlichen Tradition zugleich der Tag des Heiligen Stefan, des ersten Märtyrers. Und dementsprechend subtil, pointiert ist auch das Netz der Anspielungen im Kantatentext von Johann Sebastian Bachs an diesem Tag uraufgeführter Kantate BWV 57: "Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet, denn, nachdem er bewähret ist, wird er die Krone des Lebens empfangen." "Krone" nämlich heißt auf Altgriechisch "Stephanos". Davon mal abgesehen ist die Steinigung des Stephanus ein gruselige Geschichte, und die inspirierte den Thomaskantor zu einer seiner expressivsten Kantaten.

Höchstdringliche Zwiesprache

Aber was heißt "Kantate"? Auf dem Autograph steht ein Titel, den Bach für geistliche Musik nur ganz selten verwandte: "Dialogus", "Zwiesprache". Und miteinander sprechen tun hier immer zwei spezielle Personen: die christliche Seele und ihr Herr bzw. Freund Jesus. Was sie zu besprechen haben? Das wichtigste von allem für den Menschen vor der Aufklärung: Wie man in den Himmel kommt. Höchstdringliche Zwiesprache also und gefundenes Fressen für den größten Musikdramatiker des Abendlandes. Nirgendwo außerhalb seiner Passionen ist Bach so nah an der Oper wie hier. Emotionale Starkstromleitungen.

Ins Schwarze getroffen

Insgesamt drei Dialog-Kantaten Bachs haben Christoph Spering und seine Ensembles Chorus Musicus Köln und Das Neue Orchester für ihre zweite Bach-Kantaten-Einspielung ausgewählt. Viele gescheite Gedanken hat man sich gemacht, um die ideale Besetzungsstärke der Instrumentalstimmen,  um ausgewogene Temporelationen, um die Registrierung der schließlich sehr präsent klingenden Continuo-Orgel. Und ins Schwarze getroffen: Ihre warme Dinglichkeit, ihr zügig pulsierende, dabei ungehetzte Vitalität, ihre prägnante Beredtheit und nicht zuletzt die beiden klangschön, präzise und textverständlich singenden Solisten Johanna Winkel und Thomas E. Bauer heben diese Interpretation aus der Masse auch qualitätvoller Vergleichsaufnahmen heraus. Machen wir uns nichts vor: Bachs grandiose, wunderliche Kantaten bleiben eine intellektuelle Herausforderung für jeden, der sich mehr als nur oberflächlich mit ihnen beschäftigen will. Zumindest hörend-fühlend kann man aber wohl nicht viel näher herantreten als hier.