BR-KLASSIK

Das "Kyrie" einer "Missa" von Tomás Luis de Victoria. Geistliche Musik, über 400 Jahre alt, die nun scheinbar zeitlos wieder erklingt. Im Mittelpunkt seines neuen Albums steht für John Potter die Frage, "was mit dieser Musik nach ihrer Niederschrift passiert ist?" Welches Eigenleben haben diese Kompositionen und Werke der Renaissance entfaltet? Wie haben sie überleben können jenseits ihrer Handschriften, Drucke und Archive?

Bildquelle: ECM

Der CD-Tipp zum Anhören

Für den britischen Tenor das Zentrum seiner Annäherung an die Messen und Motetten von Victoria und Josquin Desprez, seiner intuitiven Spurensuche. Denn "das heimliche Leben dieser Musik, das ist in historischer Hinsicht ihr echtes Leben", so John Potter. "Secret History" heißt diese neue CD, "Geheime" oder "Verschwiegene Geschichte". Anstelle üppiger Vokalpolyphonie und eines vielstimmigen Chores, der Victorias Missa "Surge Propera" in einer hohen Kathedrale vorträgt, hören wir John Potters schönen Solo-Tenor, dazu Jacob Heringman und Ariel Abramovich, die auf der Vihuela, jenem Instrument des "missing link" zwischen Laute und Gitarre, die übrigen Vokallinien sublim und äußerst delikat ausfüllen.

Erst zerlegt, dann neu zusammengefügt

Genau dies scheint das Geheimnis zu sein, auf das der Titel anspielt: dass die Zeitgenossen von Josquin Desprez und Victoria deren vor vier- und fünfhundert Jahren komponierte Chormusik nicht als unumstößliche sakrosankte Werke verstanden, sondern zur Anregung nahmen für eigene Adaptionen. Häufig entstanden auf diese Weise intime Lautenstücke, in denen die bekannten Melodien weiterlebten - eine gängige Bearbeitungspraxis der Renaissance. Bei John Potter wird die Musik erst zerlegt, dann wieder unorthodox neu zusammengefügt, teils zum Vokalduett, in das sich Anna Maria Frimans klarer Sopran geschmeidig einfügt. Die schwedische Sopranistin ist ein Glücksfall für John Potter. Schon mehrfach hat er mit ihr ungewöhnliche Vokalexperimente bestritten, zusammen mit Ariel Abramovich aus Argentinien und dem US-Amerikaner Jacob Heringman 2014 etwa neue Lautenlieder von Sting.

Entrückt und schwerelos

Das Album "Secret History" nun macht uns vertraut mit geistlicher Vokalmusik von Josquin und Victoria, die teils in Tabulatur-Abschriften unter Lautenisten ihr geheimes Eigenleben führen konnte. Zwei Vokalstimmen, ganz natürlich und unaufgeregt, dazu zwei Vihuelas, bei einigen Stücken wird das Quartett mit Lee Santana, Vihuela und Gambistin Hille Perl zum Sextett erweitert. In der Abgeschiedenheit des Klosters St. Gerold am Eingang des Grossen Walsertals in Österreich entstand schon 2011 diese ganz archaische und zugleich wie improvisiert wirkende, entrückte und schwerelose Aufnahme. Wie gut, dass sie nun endlich erschienen ist!