BR-KLASSIK

Taktgefühl - das kann jeder Musiker gebrauchen. Das Wort Takt hat aber nicht nur eine musikalische Bedeutung. Im Zwischenmenschlichen heißt es so viel wie Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit, emotional mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, ohne sich aufzudrängen. Früher gab es dafür auch das schöne Wort Zartgefühl. Das ist längst altmodisch geworden, passt aber ganz wunderbar zur Debüt-CD der schweizerischen Sopranistin Regula Mühlemann.

Bildquelle: Sony Classical

CD-Tipp 25.10.2016

Der CD-Tipp zum Nachhören!

Unbekannte Mozartarien hat Regula Mühlemann zusammengestellt: kleine Juwelen aus selten gespielten Mozartopern, etwa "Die Gärtnerin aus Liebe" oder "Der Schauspieldirektor". Und Einlagearien, die Sängerinnen für einen konkreten Anlass bei Mozart bestellten, um sie in die Oper eines anderen Komponisten einzuschieben. Darunter so überirdisch schöne wie "Schon lacht der holde Frühling" oder "Vorrei spiegarvi". Diese Arie schrieb Mozart für seine Jugendliebe, Aloysia Lange, die ältere Schwester seiner Frau Constanze. 1783 wurde dieses tief berührende Meisterwerk der Seelenschilderung im Wiener Burgtheater erstmals gesungen - eingebettet in die längst vergessene Buffo-Oper eines gewissen Pasquale Anfossi. Oboe und Sopran singen sich in einem innigen Dialog geradezu in Trance, bevor die Stimme zu einem halsbrecherischen Sprung über mehr als zwei Oktaven ansetzt, vom eingestrichenen h zum dreigestrichenen d. Mit diesem herausgeschleuderten Spitzenton jagt die Figur, eine gewisse Clorinda, ihren untreuen Liebhaber davon - ein Theatercoup, der diese gefühlvolle Arie so überraschend wie effektvoll abschließt.

Klug zusammengestelltes Programm

Bis auf "Durch Zärtlichkeit und Schmeicheln", der Arie der Blonden aus der "Entführung aus dem Serail", verzichtet Regula Mühlemann in ihrem klug zusammengestellten Programm auf alle naheliegenden Hits - nichts aus "Figaro", "Don Giovanni" oder der "Zauberflöte". Und so staunt man, in welche psychologischen Tiefen bereits der 16-jährige Mozart vordrang, etwa in "Lucio Silla". Nur wenig später schrieb er das zweite bekannte Werk dieser CD, die Motette "Exultate, Jubilate". Mozart schrieb das brillante Stück eigentlich für einen Mann, den Kastraten Venanzio Rauzzini - doch es klingt, als hätte er es Regula Mühlemann auf den Leib geschrieben.

Kristallklar geführter Sopran

Einfühlsam begleitet wird sie vom Kammerorchester Basel unter Umberto Benedetti Michelangeli. Mühlemann verfügt über perfekt fokussierten und kristallklar geführten Sopran. Und sie hat eine eindrucksvolle Technik - exponierte Koloraturen bewältigt sie mit spielerischer Leichtigkeit. Aber das wichtigste ist, dass sie mit ihrer Stimme emotional zu berühren vermag, ohne sich und ihre Gestaltungsmittel je in den Vordergrund zu drängen. Eindringlichkeit und Taktgefühl in Verbindung mit einer glockenhellen Stimme, die auch in höchster Höhe wunderbar warm klingt - diese Kombination macht Regula Mühlemann zu einer herausragenden Mozart-Interpretin.