Friedrich der Große maß nur fünf Fuß und zwei Zoll. Modern ausgedrückt: Er war mit 1,62 m zumindest für heutige Maßstäbe eher klein gewachsen. Wahre Größe wird eben nicht in Zentimetern gemessen, sie kommt von innen.
Das gilt erst recht für Schuberts "Große" C-Dur-Symphonie. Sie ist allerdings auch in äußerer Hinsicht groß dimensioniert, jedenfalls was die Länge angeht. Mit knapp 55 Minuten Spieldauer überforderte Schuberts letzte Symphonie die Zeitgenossen. Im Wiener Musikverein legte man sie ratlos zur Seite, das Manuskript setzte Staub an. Erst 1839, elf Jahre nach Schuberts Tod, stieß Robert Schumann auf die Noten - und setzte sofort alles daran, das Werk zu veröffentlichen. Allerdings nicht ohne entschuldigend anzumerken, dass es "himmlische Längen" habe, wenn auch "aus den besten Gründen". Sein Freund Felix Mendelssohn dirigierte kurz darauf die Uraufführung.
Der Beiname "Die Große" stammt nicht von Schubert, und durchgesetzt hat er sich nicht zuletzt deshalb, weil sich die Achte damit besser von der Sechsten Symphonie unterscheiden lässt, die in der gleichen Tonart C-Dur steht. Und doch trifft er etwas vom Wesen dieser damals revolutionär neuartigen Musik. Was macht ihre Größe aus? Schwer zu sagen. Jedenfalls ist es eine Größe ganz anderer Art als die seines Zeitgenossen Beethoven. Wo der besinnungslos voranstürmt, schafft Schubert weite Räume, wo Beethoven auf ungebremste Energie setzt, hat Schubert den langen Atem. Wer dafür keine Geduld hat, sollte besser die Finger von dem Stück lassen.
Der Dirigent Philippe Jordan hat ein waches Gespür für Schuberts ganz spezifischen Umgang mit der Zeit. Er lässt die weiten Bögen atmen, gibt Schuberts musikalischer Architektur den Raum und die Dimensionen, die sie braucht, um ihre Wirkung zu entfalten. Aber, und das ist fast noch wichtiger, es bleibt stets eine Größe mit menschlichem Maß, frei von Monumentalität und falschem Pathos.
Schubert orientiert sich immer am menschlichen Körper, an den natürlichen Rhythmen von Atmen, Singen, Sprechen, Gehen und Tanzen. Das ist es, was seine "himmlischen Längen" so kurzweilig, seine Musik so lebendig und die "Große" C-Dur-Symphonie so berührend macht. Genau diese Verbindung von lebendigem Puls und weitem Atem macht Philippe Jordans Interpretation in jedem Takt fesselnd. Hier verbinden sich die besten Eigenschaften der historischen Aufführungspraxis und der philharmonischen Tradition: Pulsierende Tempi, schlanker Klang und ausgefeilte Phrasierung treffen auf das sichere Gespür für Emotion und große Linien.
Man kann ja schon fragen, ob es das braucht: Noch eine Einspielung der beiden beliebtesten Symphonien von Franz Schubert, der Unvollendeten und der Großen C-Dur. Unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten vermutlich nicht unbedingt. Jedenfalls ist es kein Zufall, dass diese Aufnahme im Eigenlabel der Wiener Symphoniker erschienen ist. Aber wenn dabei künstlerisch so überzeugende Resultate entstehen, dann kann man sich nur darüber freuen, dass die Orchester mehr und mehr ihre CD-Produktionen selbst in die Hand nehmen. Ja, diese Einspielung hat es gebraucht. Schön, dass es sie gibt.
Wiener Symphoniker
Leitung Philippe Jordan
Label: Wiener Symphoniker