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Album der Woche – Vladimir Jurowski dirigiert Beethoven trifft Dean

Beethovens "Heiligenstädter Testament" ist ein Mythos – eine schonungslose Lebensbeichte des Komponisten über seine fortschreitende Ertaubung, seine gesellschaftliche Isolation, seine Todesgedanken. Von dem erschütternden Schriftstück hat sich der Australier Brett Dean 2008 zu seinem Orchesterstück "Testament" inspirieren lassen. 2020 wurde es vom Bayerischen Staatsorchester unter seinem designierten Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski aufgeführt – zusammen mit der Zweiten Symphonie Beethovens. Eine spannende Hörerfahrung.

CD-Cover: Vladimir Jurowski und das Bayerische Staatsorchester mit Beethoven und Dean | Bildquelle: Bayerische Staatsoper Recordings

Bildquelle: Bayerische Staatsoper Recordings

Der CD-Tipp zum Anhören

Brett Deans "Testament" beginnt mit geräuschhaften Schraffuren: Ein Hauchen, Kratzen und Schaben ist das im Orchester – als sei‘s Beethovens Federkiel, der da nervös übers Papier kritzelt. Vladimir Jurowski führt das mit seinem Bayerischen Staatsorchester plastisch vor – und gewinnt besondere Spannung aus der Konfrontation mit dem Original: Mit scharfer Artikulation kitzelt er den Furor aus Beethovens Zweiter Symphonie, die wie das wenig später verfasste "Heiligenstädter Testament" die innere Zerrissenheit Beethovens spiegelt.

Magische Beethoven-Einsprengsel

Nach sechs Minuten öffnet sich in Brett Deans atmosphärisch dichter Komposition eine Tür zu Beethoven: Wie hinter Milchglas scheint die Streicher-Kantilene aus dem Adagio des F-Dur-Streichquartetts Opus 59 Nr. 1 auf – um dann abrupt abzubrechen. Man hört dieses Zitat durch die ertaubenden Ohren Beethovens: leicht verzerrt, bruchstückhaft, mit Störgeräuschen. Lustvoll betont Vladimir Jurowski den surrealen Charakter dieses magischen Beethoven-Einsprengsels. Ganz ähnlich nimmt er die Streicher-Melodie im langsamen Satz der Zweiten Symphonie: ruhig fließend, vibratolos schwebend, dem Atem der Musik folgend.

Kurz und bündig

Dieses Album wird lieben, wer …
… spannende, ohrenöffnende Gegenüberstellungen liebt.

Dieses Album muss man haben, weil …
… es die vielversprechende Zusammenarbeit des Bayerischen Staatsorchesters mit seinem neuen Generalmusikdirektor dokumentiert.

Dieses Album lohnt sich, weil …
… Brett Dean Beethovens Welt raffiniert in die Gegenwart fortschreibt.

Dieses Album führt bei Überdosis zu …
… Sehnsucht, das Bayerische Staatsorchester unter Vladimir Jurowski bald wieder live in der Bayerischen Staatsoper zu erleben.

Beethovens wilde Entschlossenheit

Gegen Ende steigert sich Brett Deans "Testament" zu höchster Erregung, die den Schmerz Beethovens genauso ausdrückt wie seine wilde Entschlossenheit weiterzumachen: "Muss es sein?" schrieb er über das Finale seines letzten Streichquartetts – Antwort: "Es muss sein!"

Entfesselte Spielfreude

Vladimir Jurowski ist ein Mann mit vielen Gesichtern. Mal führt er sein Bayerisches Staatsorchester in die dystopische Klangwelt der Gegenwart. Mal verwandelt er es in ein Beethoven-Orchester, indem er historische Spieltechniken zum Einsatz bringt – so hat er seine Musikerinnen und Musiker im Stehen spielen lassen. Mit Erfolg, wie ihre entfesselte Spielfreude in der Zweiten Symphonie zeigt, die gern als harmlos und heiter abgetan wurde – von wegen.

Infos zur CD

Ludwig van Beethoven:
Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 36
Brett Dean:
"Testament"

Bayerisches Staatsorchester
Leitung: Vladimir Jurowski

Label: Bayerische Staatsoper Recordings

Sendung: "Piazza" am 30. Juli 2022, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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