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Album der Woche – Steve Reich: Streichquartette Streicher, Tonband und kein Pathos

Er gilt als der "Godfather" der Minimal Music: Steve Reich ist neben Phil Glass der wichtigsten Vertreter dieser Musikrichtung aus den USA. 86 Jahre ist der einstige Revolutionär inzwischen alt. Zeit für eine kleine Retrospektive: Das New Yorker Mivos Quartet hat eine Gesamteinspielung von Reichs Streichquartetten vorgelegt, in Zusammenarbeit mit dem Komponisten. Wobei: Typische Streichquartette sind es nicht. Denn Reich komponiert jeweils für drei bzw. vier Quartette, von denen nur eines live auf der Bühne sitzt und die übrigen vom Tonband zugespielt werden.

CD-Cover: Mivos Quartett spielt Steve Reich | Bildquelle: Deutsche Grammophon

Bildquelle: Deutsche Grammophon

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Ratternde Eisenbahnräder, rasante Streicherrhythmen, Drive von der ersten Sekunde an: "Different Trains" von Steve Reich gehört zu den beliebtesten Streichquartett-Kompositionen der Gegenwart. Oder mit den Worten von Franz Beckenbauer: "We call it a Klassiker".

Fröhliche Musik, düstere Thematik

Dabei war das Stück nach der Uraufführung heftig umstritten. Denn Steve Reich hatte zusammengebracht, was eigentlich nicht zusammengehört: fröhliche Minimal Music und das düstere Thema des Holocausts. Der Komponist hatte sich an die Zugfahrten seiner Kindheit erinnert, von seiner Mutter in Los Angeles zu seinem Vater in New York. Und sich plötzlich gefragt, in welchen Zügen er, ein jüdischer Junge, damals gesessen wäre, wenn er nicht in den USA zur Welt gekommen wäre, sondern in Berlin oder Warschau.

Verzicht auf Larmoyanz und Pathos

Was bei der Uraufführung 1988 kritisiert wurde, macht aus heutiger Sicht die Stärke des Stücks auf: der Verzicht auf Larmoyanz und Pathos. Steve Reich komponiert wie ein Dokumentarfilmer. Jede Melodie des Quartetts ist abgeleitet aus den Sprachmelodien der Zeitzeugen vom Tonband. Das zunehmend Beklemmende, ja Apokalyptische ist nicht aufgesetzt, sondern erwächst einzig aus dem Material: den Zuggeräuschen aus den 1940er Jahren und den Stimmen der KZ-Überlebenden.

Dramatik, die unter die Haut geht

Ähnlich verfährt Reich in seinem späteren Streichquartett "WTC 9/11", das die Anschläge auf das New Yorker World Trade Center zum Thema hat. Reich wohnte damals selbst in Manhattan, und für das Stück nahm er Erinnerungen seiner Nachbarn auf. Auch hier spinnen die Streicher einfach die Sprachmelodien weiter, ohne Tonmalerei, ohne Filmmusik-Schwulst. Und doch entfaltet sich aus dem Doku-Material, nicht zuletzt dem Funkverkehr der Fluglotsen und Feuerwehrleute, eine ungeheure Dramatik, die unter die Haut geht.

Berührendes musikalisches Denkmal

Für mich ist "WTC 9/11" das bislang stärkste Stück über die Anschläge vom 11. September. Auch wegen des Schlusssatzes: Er erinnert an den jüdischen Brauch der Totenwache, mit den Stimmen des Kantors und der Frauen, die damals Psalmen rezitierten, monatelang, bis alle Opfer identifiziert waren. Ein berührendes musikalisches Denkmal.

Ein tolles und wichtiges Album

Das Mivos Quartet greift für sein Album nicht einfach, wie andere Ensembles, auf die Tonbänder zurück, die das Kronos Quartet bei der Uraufführung vorgelegt hat, sondern hat auch die voraufgenommenen Streichquartett-Parts neu eingespielt und abgemischt. Dadurch klingt die Musik energischer, die Stimmen klarer; straff ist die Artikulation, raffiniert das Spiel mit Vorder- und Hintergrund, besonders im dritten Werk der CD, dem rein instrumentalen "Triple Quartet". Auch wenn dieses dritte Stück nicht an die Gänsehaut-Intensität seiner Schwesterwerke heranreicht, auch nicht an das Vorbild Bartók, hat das Mivos Quartet hier doch ein tolles und wichtiges Album vorgelegt, das im Kopf noch lange nachhallt, wenn der letzte Ton längst verklungen ist.

Infos zur CD

Steve Reich:
Die Streichquartette

WTC 9 / 11
Triple Quartet
Different Trains

Mivos Quartett

Label: Deutsche Grammophon

Sendung: "Piazza" am 11. März 2023 um 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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