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Antonello Manacorda dirigiert Glucks "Alceste" in München "Die Liebe geht über den Tod hinaus"

Am Sonntag dirigiert Antonello Manacorda mit Glucks "Alceste" seine erste Premiere an der Bayerischen Staatsoper. Ein Werk, das nicht besonders oft auf den Spielplänen auftaucht. Über die Arbeit an einem unbeschrieben Blatt, die Schnelligekeit und Langsamkeit in Glucks Musik und über die unerschöpfliche Kraft der Liebe hat der italienische Dirigent mit BR-KLASSIK gesprochen.

Der Dirigent Antonello Manacorda | Bildquelle: ??

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BR-KLASSIK: Glucks "Alceste" wurde zuletzt 1936 an der Bayerischen Staatsoper aufgeführt, auch an anderen Opernhäusern steht diese Oper nicht sehr oft auf den Spielplänen. Wie gehen Sie an so eine Probenarbeit heran?

Antonello Manacorda: Es erfordert sehr viel Geduld - von allen Seiten. Nicht nur weil dieses Stück so lange nicht gespielt wurde, sondern auch weil es ein ganz besonderes Stück ist, das eine sehr eigene musikalische Sprache benutzt - eine eher unbekannte Sprache. Gluck hat eine ganz besondere Art, Oper zu schreiben. Und daran haben wir wirklich hart arbeiten müssen.

Gluck hat eine ganz besondere Art, Oper zu schreiben.
Antonello Manacorda

BR-KLASSIK: Kann das vielleicht auch ein Vorteil sein, wenn man ein weißes Blatt beschreibt - und nicht ein Buch aufschlägt, in dem schon viele Aufzeichnungen drin stehen?

Antonello Manacorda: Ich habe vor zwei Jahren in München eine Wiederaufnahme von "Le Nozze di Figaro" dirigiert – mit nur einer zweieinhalbstündigen Sitzprobe, das war's! Es gab natürlich sehr viele Notizen in den Noten von den Musikern - und ich musste in zweieinhalb Stunden meinen Figaro zeigen, meine eigene Handschrift hinein bringen. Das hat eben Vor- und Nachteile. Im Fall von "Alceste" hatten wir sechs Proben mit dem Orchester, zusätzlich zu den drei Bühnenorchesterproben. Wir haben sehr viel mit dem Orchester alleine proben müssen, um Glucks spezielle Sprache zu beherrschen.

Wilhelm Furtwängler vs. John Eliot Gardiner

BR-KLASSIK: Sie haben zwei "Alceste"- Aufnahmen mitgebracht: eine mit Wilhelm Furtwängler aus dem Jahr 1951 – hier dauert die Ouvertüre ca. neun Minuten. Und bei der Aufnahme mit John Eliot Gardiner (1999) ist die Ouvertüre schon nach 4'40 Minuten vorbei. Was können wir aus diesen sehr unterschiedlichen Aufnahmen lernen?

Antonello Manacorda: Geschwindigkeit und Tempo sind für uns Musiker enorm wichtig. Bei Furtwängler denke ich manchmal: "Das ist so langsam - ich verstehe gar nicht, wo wir gerade sind." Furtwängler war natürlich ein ganz großer Dirigent und Musiker, ich will auf gar keinen Fall schlecht über ihn reden! Es war nun mal eine andere Zeit – und darum geht es. Wenn Leute oder Kritiker heute ins Konzert kommen, dann fallen schnell solche Sätze wie: "Das war zu schnell!" Oder: "Das fand ich zu langsam." Und ich frage mich oft, wie man so leicht zu solchen Urteilen kommt. Und wie subjektiv das eigentlich ist. So subjektiv wie fast keine andere Sache in der Musik - denn unser Tempo ist eng verbunden mit unserem Herzschlag, mit unserer Laune, mit dem Wetter, mit dem Raum und mit der Zeit, in der gespielt wird.

Unser Tempo ist eng verbunden mit unserem Herzschlag.
Antonello Manacorda

In den Fünfzigern, als Furtwängler diese Ouvertüre gespielt hat, wurde dieses extrem langsame Tempo dafür benutzt, um die große Tragödie zu zeigen - mit unheimlich viel Pathos und Schwere. Und das ist ein Missverständnis, wie ich finde. Denn Dramatik muss nicht unbedingt gleichzeitig schwer sein. Und das gilt auch für tausend andere Opern. Ich versuche die Tempi so zu gestalten, dass sie möglichst nah am echten Leben sind – mit allen Emotionen, mit Trauer und Freude, mit schnellen und langsamen Geschwindigkeiten.

BR-KLASSIK: Die Musik ist aber deswegen für Sie nicht weniger dramatisch.

Antonello Manacorda: Gar nicht! Man darf nicht vergessen, dass wir Menschen alle gleich sind – egal aus welcher Epoche wir stammen. Als ob Menschen im 17. Jahrhundert keine romantischen Gefühle gehabt hätten! Ich sage immer: Bach hatte sehr viele romantische Gefühle, sonst hätte er nicht so viele Kinder gehabt. Die Menschen sind jetzt, was Gefühle angeht, genauso wie vor fünfhundert und wahrscheinlich auch vor fünftausend Jahren, deswegen muss man Dramatik nicht mit Langsamkeit verbinden, finde ich.

BR-KLASSIK: Die "Alceste"-Aufnahme mit John Eliot Gardiner zusammen mit den English Baroque Soloists gefällt Ihnen also deutlich besser.

Antonello Manacorda: Ja, ich unterstütze sehr die Art, wie John Eliot Gardiner den Text liest. Und das ist auch wieder ein sehr wichtiges Thema für uns Musiker und Dirigenten. Wir bewegen uns in einer Welt, die sehr schwer zu greifen ist: Wir produzieren Töne, oder Wellen, die sich in der Luft bewegen. Und was haben wir, um zu wissen, wie wir diese Wellen spielen sollten? Den Text, die Partituren! Die Urtext-Partitur ist für mich die einzige Rettung in dem Versuch zu verstehen, was Gluck vielleicht sagen wollte. Wir sind Diener einer Partitur - und nicht anders herum. Und wenn wir die zwei Interpretationen vergleichen: Ich lese es so, dass die Partitur eher der Diener von Furtwängler ist. Und John Eliot Gardiner dient der Partitur von Gluck.

BR-KLASSIK: In der Oper "Alceste" ist die Titelfigur bereit, ihr Leben für ihren Mann zu geben. Können Sie sich mit so einer aufopferungsvollen Form von Liebe identifizieren?

Antonello Manacorda: Absolut! Das ist keine Form von Liebe, das ist die Liebe. Die Liebe geht über das Leben und den Tod hinaus. Ich finde, die Liebe ist unsere einzige Waffe gegen unser prekäres Leben. Und ich meine damit nicht nur die romantische Liebe zwischen zwei Menschen. Es kann auch die Liebe zu den Kindern oder zu Freunden sein.

Ich liebe immer noch Menschen, die nicht mehr auf dieser Erde sind.
Antonello Manacorda

BR-KLASSIK: Und die ideale Liebe ist die, für die man zu sterben bereit ist?

Antonello Manacorda: Nicht die ideale, aber die stärkste wahrscheinlich. Wir sterben ja sowieso – das darf man nicht vergessen. Wir haben alle Panik davor und wir kämpfen alle gegen den Tod - das ist ja auch die Kraft der Natur, dass man versucht zu überleben und die Natur so weiterzubringen. Aber wir werden nun mal alle sterben. Und die Liebe hilft uns durch das Leben. Ich liebe immer noch Menschen, die nicht mehr auf dieser Erde sind.

BR-KLASSIK: Das heißt, das Altwerden macht Ihnen keine Sorgen? Nächstes Jahr steht Ihr fünfzigster Geburtstag an.

Antonello Manacorda: Nein! Es macht mir nur Sorgen, dass mir nicht mehr so viel Zeit bleibt, um das alles zu tun, was ich noch machen möchte. Die Uhr tickt und ich muss mich beeilen, ich muss in meinem Kalender mehr Platz für die Dinge schaffen, die ich wirklich machen möchte. Denn irgendwann werde ich sterben, vielleicht früher als gedacht. Aber in meinem Job - da geht es immer um Leben und Tod. Jeder Abend auf der Bühne vorm Publikum könnte für mich der letzte Abend des Lebens sein, immer. Und darum geht es. Wenn es nicht so wäre, dann würde ich meinen Job nicht mehr machen.

Sendung: Glucks "Alceste" live aus dem Münchner Nationaltheater am 26. Mai 2019 ab 17:30 Uhr auf BR-KLASSIK
Sendung:
"Meine Musik" mit Antonello Manacorda am 25. Mai 2019 ab 11:05 Uhr auf BR-KLASSIK

"Alceste" in München

Christoph Willibald Glucks "Alceste"
Tragédie-opéra in drei Akten (1767 / 1776, Pariser Fassung)

Inszenierung: Sidi Larbi Cherkaoui
Chor und Orchester der Bayerischen Staatsoper
Leitung: Antonello Manacorda

Informationen zu Terminen und Vorverkauf finden Sie auf der Homepage der Bayerischen Staatsoper.

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