BR-KLASSIK

Inhalt

Kritik - Händels "Ariodante" in Stuttgart Intrigen im Boxring

Mit seiner "Alcina" konnte Jossi Wieler bereits große Erfolge verbuchen. Nun hat sich der Schweizer Regisseur für sein Stammhaus Stuttgart mit "Ariodante" eine weitere Händel-Oper vorgenommen - und zeigt zahlreiche Bezüge zu brisanten Themen unserer heutigen Lebenswelt auf.

Szenenbild "Ariodante", Oper Stuttgart | Bildquelle: Christoph Kalscheuer

Bildquelle: Christoph Kalscheuer

Premierenkritik

Händels "Ariodante" in Stuttgart

Ariodante und Ginevra lieben sich. Polinesso begehrt Ginevra und versucht, das Paar durch eine Täuschung auseinander zu bringen. Die Folgen sind verheerend: Die Liebenden drohen daran zu zerbrechen. Als Polinesso im Zweikampf stirbt, wird die Intrige offenbar. Das verstörte Paar findet wieder zueinander. Ein echtes Happy End sieht natürlich anders aus - denn zumindest Ginevra nimmt während der erlittenen Verleumdung gesundheitlichen Schaden, ein Aufatmen wird für sie am Ende zur Schwerstarbeit.

Sexualmoral und Ehrenmord

Die Bezüge von diesem Bühnenwerk des Jahres 1735 zu unserer heutigen Lebenswelt sind für das Produktionsteam um Jossi Wieler offenkundig - Stichwort: Intoleranz in puncto Sexualmoral innerhalb patriarchalisch geprägter Gesellschaften, Stichwort: Ehrenmord. Die Stuttgarter Inszenierung will aber noch mehr aufzeigen, zielt darauf ab, die Bösewicht-Figur des Polinesso aufzuwerten. Vielleicht hat der Franzose Christophe Dumaux deshalb so viel Vergnügen an seiner Rolle, weil er hier immer wieder Jean-Jacques Rousseau im Original zitieren darf: dessen "Brief über das Schauspiel", mit dem unglaublichen Satz "Jede Frau, die sich zur Schau stellt, entehrt sich!" - als wäre die Bühnenkünstlerin eine schamlose Vorstufe zur Prostituierten! Indem Wieler Polinesso Rousseau in den Mund legt, erscheint uns die zentrale Intrige des Stücks noch abgründiger motiviert als sonst.

Die Premiere in Bildern

Zwischen Boxring und Zirkusarena

Szenenbild "Ariodante", Oper Stuttgart | Bildquelle: Christoph Kalscheuer Bildquelle: Christoph Kalscheuer Wobei das Spiel mit den Identitäten bei vielfältigem Kostümwechsel die Ausstatterin Nina von Mechow zu Hochform auflaufen lässt. Das Geschehen wird in einem anthrazitfarbenen Raum verortet, halb Zirkusmanege, halb Boxring: Sänger sind Artisten und Sportler zugleich, Kämpfernaturen, die um die Gunst des Publikums ringen. Händel, dem Mann aus Halle mit Wahlheimat London, dem englischsten deutschen Komponisten, wird in Stuttgart nicht nur die Hausdiva gerecht, die Mazedonierin Ana Durlovski als Ginevra, die am Ende bis an die Grenzen ihres Lebenswillens getrieben scheint. In der Titelpartie des Ariodante brilliert die Kroatin Diana Haller - nicht nur bei Koloraturengirlanden, sondern auch im herzzerreißend innigen Klagegesang "Scherza infida", mit freundlicher Unterstützung des Solo-Fagottisten. Das Staatsorchester hat seine Lektionen im Fach Alte Musik gelernt, erreicht unter Maestro Giuliano Carella punktuell sogar die Artikulationsschärfe von Originalklangensembles. Dass der Dirigent seinen Rotstift schont, kaum für Kürzungen verwendet, hindert das hochkonzentrierte Publikum auch nach 200 Minuten Musik nicht an Ovationen.

Infos und Termine

Premiere von Händels "Ariodante" an der Oper Stuttgart war am 5. März 2017; alle Aufführungstermine und weitere Informationen unter oper-stuttgart.de

Kommentare (0)

Kommentieren ist nicht mehr möglich.
Zu diesem Inhalt gibt es noch keine Kommentare.

    AV-Player