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Premierenkritik Nürnbergs neue "Bohème"

Die tragische Liebesgeschichte des Dichters Rodolfo mit der schwindsüchtigen Mimì zählt unbestritten zu den Meisterwerken Puccinis. Für die Nürnberger "Bohème"-Inszenierung gab ein junges Regieteam aus Ungarn sein Debüt am Staatstheater.

So richtig pittoresk ist das Weihnachtsmarkttreiben, bei dem die vier Künstler ihr letztes Geld an Heiligabend verprassen nicht. Das Paris der Bohème am Nürnberger Staatstheater ist grau und düster, wenn auch die Lebenslust der Bewohner des Quartier Latin ungebrochen ist. Der Weihnachtsmarkt ist ein Schwarzmarkt in halben Ruinen. Zerlumpte Kriegskrüppel versuchen ihre Tauschwaren an den Mann zu bringen. Bouquinisten handeln mit antiquarischen Büchern. Amerikanische GIs verlustieren sich mit Prostituierten, die die Not zu ihrer Tätigkeit zwingt. Und die Brasserie Momus verwandelt sich schon bald in eine American Bar, wo hinter ungeputzten Glasfronten Wein und Schnaps, Musik und schneller Sex zu haben sind.

Die beiden ungarischen Regisseurinnen Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka verlegen das bunte und unangepasste Treiben der Bohème aus dem Jahr 1830 in die unmittelbare Pariser Nachkriegszeit Ende der 1940er-Jahre. Gewissermaßen der spätest mögliche Zeitpunkt: Denn das Penicillin war gerade erst erfunden und ziemlich rar. Und man konnte noch immer an Tuberkulose sterben, wie es die in Rodolfo glücklich-unglücklich verliebte Näherin Mimì am Ende von Puccinis Oper auch in Nürnberg sehr ergreifend tut. Und die Künstlerbohème hauste auch 120 Jahre später in prekären Verhältnissen am Rande der Armut in zugigen Ateliers. Nur dass der Dichter Rodolfo eben auf der Schreibmaschine tippt, der Maler Marcello den Weg von der gegenständlichen zur abstrakten Kunst beschreitet oder der Philosoph Colline ein existenzialistischer ist.

Überzeugende Gesangsleistung

Besonders innovativ ist dieser Regieansatz allerdings nicht. Diese "Bohème" zählt trotz einiger grotesker Überzeichnungen zu den traditionelleren Inszenierungen am Nürnberger Staatstheater. Daran ändert auch der Auftritt von Marcellos Ex Musetta nichts, die als Domina ihren reichen alten Geliebten an der Hundeleine ins Restaurant führt, oder die wilde Kunstsession im vierten Bild mit Action-Bodypainting , bei der das Model fast vergewaltigt wird. Aber nicht jede Neuinszenierung muss ja gleich eine neue Lesart bieten.

Die Nürnberger "Bohème" überzeugt durch interessante Bilder, eine gute Personenführung, Spiellust der Akteure und vor allem durch ihre Gesangsleistungen. Vor allem gilt das für Hrachuhi Bassenz in der Rolle der Mimì. Ihre Bühnenpräsenz, ihr Timbre, ihr makelloser Gesang und ihre unglaublich gefühlvollen Pianos verdienen vollstes Lob. So schön und gänsehauterregend wird selten auf der Opernbühne gestorben.

Kein grosser Regiewurf

Auch Neuzugang Tenor Ilker Arcayürek überzeugt in der Rolle des Rodolfo durch sensibles Spiel, edle Bühnenerscheinung und sichere Stimmkultur. Herausragend ist auch Michaela Maria Mayer als feuriges Flittchen Musetta. Keiner der Solisten fällt wirklich ab. Auch Chor und Kinderchor bieten eine gute Leistung. Nur das Dirigat von Gábor Káli war suboptimal. Er entschied sich dafür, die dynamischen Akzente in Puccinis Partitur sehr schroff zu setzen, was nicht immer sängerfreundlich war. Besonders im 1. Bild spielte die Staatsphilharmonie Nürnberg die vier Bohèmiens fast an die Wand, was auch an der akustisch ungünstigen Position der Künstlerklause auf der Bühne lag. Aber auch Rodolfos entsetzte "Mimì"-Rufe angesichts seiner toten Geliebten drangen kaum durch den massiven Orchesterklang. Nichtsdestotrotz war es ein Dirigat, das die emotionalen Momente betonte und Platz für Rührung beim Zuschauer ließ. Alles in allem: kein großer Wurf, aber eine durchaus gelungene Inszenierung.

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