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CD-Kritik: Nelsons und die Wiener mit Beethovens Symphonien Saturiert und satt – am Kern vorbei

An Beethovens Symphonien kommt kein bekannter Dirigent vorbei, sie sind der Kern des Kernrepertoires. Entsprechend oft wurde der Zyklus aufgenommen. Deshalb liegt die Messlatte hoch für jeden Dirigenten, der sich mit einer eigenen Version einreiht. Im Vorfeld des Beethoven-Jahres richtet sich natürlich besondere Aufmerksamkeit auf neue Gesamteinspielungen – zumal, wenn es sich um so prominente Künstler wie Andris Nelsons und die Wiener Philharmoniker handelt. Können sie wirklich, wie Nelsons im Booklettext schreibt, Beethoven in die "unmittelbare Gegenwart" holen?

CD-Cover: Nelsons und die Wiener mit Beethovens Symphonien | Bildquelle: Deutsche Grammophon

Bildquelle: Deutsche Grammophon

Die Rezension zum Anhören

Dies ist nicht irgendeine CD-Box. Etwa alle 10 Jahre laden die Wiener Philharmoniker einen Dirigenten ein, den Zyklus sämtlicher Beethoven-Symphonien einzuspielen. Simon Rattle hatte im Jahr 2001 die Ehre, Christian Thielemann 2010. Und nun, pünktlich kurz vor Beginn des Beethoven-Jahres, Andris Nelsons. Alle neune. Als repräsentatives Büchlein mit 5 CDs und einer Audio Blue Ray. Nächstes Jahr, zum 250. Geburtstag des Komponisten, gehen Nelsons und die Wiener mit ihrem Beethoven-Zyklus auf Tournee. Es handelt sich also um DEN zentralen Beitrag des renommierten Major-Labels Deutsche Grammophon mit dem wohl berühmtesten Orchester der Welt, ansässig in Wien, Beethovens Wirkungsstätte. Ein Orchester wohlgemerkt, das einst nicht zuletzt mit dem Auftrag und dem Anspruch gegründet wurde, Beethovens Symphonien in richtungsweisenden Interpretationen zu spielen.

Alles Andere als richtungsweisend

Die Aufnahme ist ja auch nicht misslungen. Sie ist nur leider alles andere als richtungsweisend. Nelsons ist ein wunderbarer Musikant im besten Sinne des Wortes. Einer, der eher intuitiv an die Musik herangeht, ein großartiger Bauchmusiker. Der ein mitreißendes Brio erzeugen kann, wenn er will. Einen saftigen, ausdrucksgesättigten Streicherklang, motorische Energie, dramatische Zuspitzungen. Aber das konnten und können in dieser Art dann doch ziemlich viele Dirigenten. Und das klang und klingt schon sehr lange ungefähr so.

Philharmonische Routine

Dieser Beethoven-Zyklus mit seinem massigen, wenig transparenten Klang und seinen oft eher gemäßigten Tempi bietet viel philharmonische Routine und wenig neuen Einsichten. Bei Herbert von Karajans zweitem Zyklus mit den Berlinern aus den 60er Jahren klingt es oft ähnlich, nur besser – weil deutlich ausgefeilter und differenzierter. Um Missverständnisse zu vermeiden: Es gibt für die Interpretation dieser Musik meiner Meinung nach keine verbindliche Ästhetik. Man kann Beethoven auf ganz unterschiedliche Weise aufregend in die Gegenwart holen.

Verschiedene legitime Sichtweisen

Man kann ihn mit historischen Instrumenten unglaublich packend spielen, wie es John Eliot Gardiner mit seiner epochalen Einspielung gelungen ist. Man kann die Ideen der historischen Aufführungspraxis mit verblüffender Radikalität auf moderne Orchester übertragen, wie es Paavo Järvi mit der Deutschen Kammerphilharmonie exemplarisch gezeigt hat. Man kann auch die historische Aufführungspraxis mit der Subjektivität der romantischen Genieästhetik verbinden, wie es Teodor Currentzis gegenwärtig tut. Oder man wählt eine kluge Synthese aus philharmonischem Sound und sprechender Artikulation, wie es Simon Rattle vorgemacht hat.

Ohne letzte Konsequenz

Andris Nelsons dirigiert am 26.05.2016 während einer Probe das Gewandhausorchester in Leipzig | Bildquelle: picture-alliance/dpa Weiß mit seinem Beethoven nicht wirklich zu überzeugen: Andris Nelsons | Bildquelle: picture-alliance/dpa Aber auch die romantische Tradition des Beethovens-Spiels, wie sie etwa Christian Thielemann verkörpert, ist immer noch für höchst individuelle Deutungen gut. All das bietet Nelsons leider nicht. Er nimmt den Schönklang des Wiener Edelorchesters, wie er kommt. Er geht in die Vollen, ohne den Dingen mit letzter Konsequenz auf den Grund zu gehen. Das ist auf pauschale Weise schön, weil hier schöne Musik schön gespielt wird. Und das ist doch zu wenig, weil Beethovens Musik alle Musik, die bis dahin komponiert wurde, in Frage stellt, weil sie uns selbst in Frage stellt, weil sie uns fragt, wie wir leben wollen. Diese existenzielle Dimension, diese zugleich verstörende und euphorisierende Energie macht den Kern von Beethovens Botschaft aus. Nelsons und die Wiener spielen musikantisch, satt und saturiert darüber hinweg. Das ist nicht wirklich schlecht, aber doch auf hohem Niveau eine Enttäuschung.

Andris Nelsons dirigiert Beethoven

Ludwig van Beethoven:
Symphonien Nr. 1 – 9

Wiener Philhamoniker
Leitung: Andris Nelsons

5 CDs plus 1 Blue Ray Audio

Label: Deutsche Grammophon

Sendung: "Leporello" am 6. November 2019 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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