BR-KLASSIK

Inhalt

Buchtipp – "Lyrisches Tagebuch" von Christian Gerhaher Vor dem Singen kommt Verstehen

Er ist einer der herausragenden Interpreten des Kunstlieds: Christian Gerhaher. Seine Arbeit an Musik und Text versteht der gefeierte Bariton als 'Bedeutungssuche'. Nur wer versteht, was er singt, weiß auch, wie er es singen muss. Von seiner Annäherung an die Lieder von Schumann, Schubert oder Mahler, aber auch von Othmar Schoeck und Wolfgang Rihm, erzählt Gerhaher jetzt in seinem "Lyrischen Tagebuch".

Buchcover: Lyrisches Tagebuch – Christian Gerhaher | Bildquelle: C.H. Beck

Bildquelle: C.H. Beck

Beim Lesen dieses Buchs wird schnell klar: hier schreibt kein extrovertierter Sänger, der seinen Erfahrungsschatz mitteilen möchte. Er selbst würde als Beruf vielleicht "Bedeutungssucher" angeben. Dieser Sänger will verstehen, was er singt – um zu wissen, wie er singen muss. In der Oper – und mehr noch im Lied, diesem zerbrechlichen Kosmos der Nuancen, Abtönungen und Schattierungen.

In 14 Kapiteln durch die Welt des Lieds

Jedes der 14 Kapitel dieses Buchs ist mit Ort und Datum versehen. Und alle kann man unabhängig voneinander lesen. Sollte man auch. Vielleicht auch immer nur eines auf einmal. Für die gewaltige Dichte in Gerhahers Gedanken- und Erlebniswelt muss man sich Zeit nehmen: Sich von ihm in die 'Totentanz'-Kapelle auf dem Friedhof seiner Geburtsstadt Straubing führen lassen – und mit Gustav Mahlers Wunderhornliedern wieder rauskommen. Ihn durch Schuberts "Schöne Müllerin" begleiten, diese "psychologische Feinzeichnung eines Selbstmords in zwanzig Bildern".

Hier macht sich jemand aus dem Staub, und es ist ihm egal, was man darüber denken mag.
Christian Gerhaher

Mit analytischer Schärfe dringt Christian Gerhaher in die letzten Ritzen der Gedichte und ihrer musikalischen Umsetzung. Stellt Traditionen vor – und seine Sichtweise dagegen. Dem Lied "Ich bin der Welt abhanden gekommen" von Gustav Mahler nimmt Gerhaher den Nimbus vom tragisch umflorten Weltenabschied: "Hier macht sich jemand aus dem Staub, und es ist ihm egal, was man darüber denken mag."

Präzise Sprache und feiner Humor

Das ist sprachlich präzise und argumentativ überzeugend – und immer ein Angebot, nie eine Doktrin. Und schon bald geschieht Unglaubliches: Man lernt Hören beim Lesen. Über die oft todestrunkene Melancholie des Stoffs trägt uns mit großer Leichtigkeit die Selbstironie und der feine, uneitle Humor dieses Musikvermittlers.

Für sein Debüt bei der Schubertiade in Vorarlberg wünscht sich der Veranstalter vom jungen Christian Gerhaher "was Größeres" – Schuberts "Schwanengesang" vielleicht? Gerhaher sagt zu, obwohl er den Zyklus zu diesem Zeitpunkt, wie er schreibt, technisch schlicht nicht bewältigen konnte. Das Ergebnis? Unorthodox, aber erfolgreich: "weil ich bei den hohen und schwierigen Tönen mit den Armen ruderte und überhaupt wild gestikulierte. Aber das Publikum ließ sich von meinem echt jugendlich-existenziell durchlebten Vortrag mitreißen."

Kurz und bündig

Dieses Buch wird lieben, wer ...
... Schuberts "Winterreise" und Schumanns "Dichterliebe" schon immer verfallen war – und mit dieser Lektüre eine Ahnung davon bekommt, was die Erklärung dafür sein könnte.

Dieses Buch ist ein Lesegenuss, weil ...
... es auf wenigen Seiten ein einziges Lied zur Welt weitet.

Dieses Buch liest man am besten ...
...
im Freien. Am Waldrand, im Garten, auf einer Bank im Friedhof. Und immer bei Abendsonne.

Hommage an Heinz Holliger

Ein besonders schönes Kapitel hat Gerhaher seinem Freund und Förderer Heinz Holliger gewidmet: "Schon bei unserer ersten Begegnung in München nahm er mich verzeihend an der Hand und sagte mir, es sei sehr schön gewesen, obwohl es das von meiner Seite gar nicht war. Und so ist es geblieben – vieles habe ich unter ihm in den Sand gesetzt, und seine Nachsicht wollte dennoch nicht enden."

Christian Gerhaher als Liebesbotschafter

Gustav Mahlers "Lied von der Erde", Robert Schumanns "Myrthen" oder Franz Schuberts "Winterreise" – egal, welches Kapitel Sie sich zuerst vornehmen: Sie werden auf jeder Seite bestimmt, aber behutsam an die Hand genommen von einem sensiblen Sänger und Menschen, der schon als Jugendlicher seine Antennen ausgefahren hat: Was ein Tiefflieger in seiner niederbayerischen Heimat mit einem Grundmotiv des Kunstlieds, der Liebesbotschaft, zu tun hat, erfahren Sie im "Vorspiel" dieses "Lyrischen Tagebuchs". Und mit diesem Erlebnis sollten Sie unbedingt anfangen!

Infos zum Buch

Christian Gerhaher
Lyrisches Tagebuch – Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm
Verlag: C. H. Beck
Preis: 25,00 Euro

Sendung: "Piazza" am 26. März 2022 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (0)

Kommentieren ist nicht mehr möglich.
Zu diesem Inhalt gibt es noch keine Kommentare.

    AV-Player