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Der Dirigent Clemens Schuldt im Interview Niemals abgucken und kopieren!

Valery Gergiev aus nächster Nähe über die Schulter schauen, beim Sandwichessen zusammen mit Sir Simon Rattle in der Partitur blättern: Der neue Chefdirigent des Münchener Kammerorchesters Clemens Schuldt hat in London von den ganz Großen gelernt. Mit diesen Erfahrungen im Gepäck tritt der 34-Jährige sein neues Amt in München an.

Clemens Schuldt | Bildquelle: Sammy Hart

Bildquelle: Sammy Hart

BR-KLASSIK: Clemens Schuldt, irgendwann haben Sie sich entschieden, Ihre Geige gegen den Dirigierstab einzutauschen. Warum? 

Clemens Schuldt: Es war eine unglaubliche Freiheit, die ich erfuhr: weg von der Nervosität. Die Freiheit hatte ich als Geiger nie, weil ich immer das Damoklesschwert der Perfektion über mir spürte. Manchmal hatte ich sogar Phasen, in denen ich Fehler während eines Konzerts gezählt habe. Und beim Dirigieren konnte ich loslassen. Ich musste und durfte nur inspirieren.

BR-KLASSIK: Sie sind jetzt Künstlerischer Leiter des Münchener Kammerorchesters, das mal kurz vor dem Aus stand, unter Christoph Poppen und Alexander Liebreich dann wieder erfolgreich wurde, doch immer noch im Schatten der drei Luxusliner in München steht: des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, des Bayerischen Staatsorchesters und der Münchner Philharmonikern. Wie erzeugt man da Wahrnehmung oder auch Relevanz?

Clemens Schuldt: Da muss ich einhaken, denn ich finde nicht, dass wir im Schatten stehen. Wir stehen an der Seite, auf gleicher Höhe. Aber wir stehen anderswo! Wenn man es Nische nennen möchte, kann man das so bezeichnen. Ich würde es eher Profil nennen. Wir haben sehr gute Programmatiken, haben das Orchester positioniert und einen sehr treuen Publikumsstamm. Sogar die Konzerte in der Pinakothek der Moderne, bei denen wir uns nur auf einen zetgenössischen Komponisten fokussieren, sind gut besucht - manchmal sogar ausverkauft. Und das ist in einer angeblich so konservativen Stadt wie München schon ein richtiges Statement.

Alle bemerken, was da für ein Juwel ist.
Clemens Schuldt über das Münchener Kammerorchester

BR-KLASSIK: Das Münchener Kammerorchester hat so eine Art "Unique Selling Point", nicht zuletzt weil keiner so mutige Programme macht.

Clemens Schuldt | Bildquelle: Sammy Hart Clement Schuldt | Bildquelle: Sammy Hart Clemens Schuldt: Genau, und das höre ich auch immer wieder von Kulturschaffenden aus ganz Europa. Die merken das, selbst wenn sie das Orchester noch nicht gehört haben, weil wir noch nicht so viel auf Tournee gehen wie vielleicht das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks oder die Münchner Philharmoniker. Aber alle bemerken, was da für ein Juwel ist. Bei den Politikergesprächen habe ich absolute Rückendeckung gespürt. Die Sponsoren stehen weiter zu uns. Das ist schön, dass dieser Wechsel zu mir angenommen wird - mit Neugier und mit Wohlwollen. Ich kann eigentlich nur sagen, dass wir auf einem guten Weg und in einem guten Zustand sind.

BR-KLASSIK: Aber Sie haben ein Problem - es gibt keinen eigenen Probenraum für das Orchester. Sie proben zur Zeit provisorisch in einem alten Fabrikgebäude.

Clemens Schuldt: Es wirkt wie ein zu großes Wohnzimmer oder ein etwas ungünstig geschnittener Probenraum für einen Kirchenchor. Mitten in dieser Art Wohnzimmer ist nämlich eine Säule, um die herum wir uns drapieren müssen. Sobald Bläser, Schlagzeug oder Klavier dazukommen, ist der Raum zu klein und wir müssen ausweichen. Das heißt, wir haben also schon innerhalb der Probenphase zwei Räume, die wir akustisch erstmal füllen und mit denen wir zurechtkommen müssen. Und das ist natürlich kein Zustand, wenn wir uns in der Liga der großen Münchner Orchester sehen. Das geht an die Substanz.

BR-KLASSIK:  Was sagen die Politiker, wenn Sie ihnen das erklären?

Clemens Schuldt: Wir ernten schon Verständnis. Es gibt immer wieder Pläne, aber bis zum heutigen Zeitpunkt ist noch nichts spruchreif.

Clemens Schuldt

Der 1982 in Bremen geborene Clemens Schuldt studierte an der Musikhochschule Düsseldorf und spielte als Geiger in der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und im Kölner Gürzenich-Orchester. Sein Dirigierstudium absolvierte er bei Rüdiger Bohn in Düsseldorf, bei Mark Stringer in Wien sowie bei Nicolás Pasquet in Weimar. 2010 ging er als Gewinner des Donatella Flick Dirigierwettbewerbs in London hervor. Schuldt war ein Jahr lang Assistent beim London Symphony Orchestra. Dort arbeitete er mit Dirigenten wie Colin Davis, Simon Rattle und Valery Gergiev zusammen. Clemens Schuldt dirigierte bislang unter anderen das Philharmonia Orchestra, die Bamberger Symphoniker, das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart oder das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin. In Gelsenkirchen, Mainz, Osnabrück und Innsbruck hat er Opernproduktionen geleitet. Beim Münchener Kammerorchester hat er seit Herbst 2016 vorerst für drei Jahre die Position des Chefdirigenten inne.

Lernen von den Grossen

BR-KLASSIK: Während Ihrer Dirigentenlaufbahn waren Sie lange Zeit in London. Sie haben 2010 ein Stipendium gewonnen, nachdem sie ein Dirigierwettbewerb für sich entschieden haben, und waren dort Assistent von Sir Colin Davis, Valery Gergiev und Simon Rattle. Wie lernt man von den Dirigentenpersönlichkeiten? Durch Fragen? Durch Abschauen? Geht man auch zu den Musikern und fragt nach?

Clemens Schuldt: All diese Punkte sind richtig. Durch Zuhören, aber auch in Gesprächen: Als Simon Rattle und ich einmal Sandwiches aßen, haben wir versucht, alte Choralformeln in einer Symphonie von Bruckner zu entdecken - und ich merkte, wie neugierig er ist und wieviel Spaß es ihm machte, mit mir in der Partitur zu blättern.

Ich habe mein Gehör durch dieses Jahr in London geschult.
Clemens Schuldt

BR-KLASSIK: Aber abgucken kann ja auch in die Irre führen.

Clemens Schuldt: Ja, niemals abgucken und kopieren! Was mich zum Beispiel bei Valery Gergiev fasziniert, ist seine Genauigkeit. Gergiev hat mit zwei, drei Aussagen und einer anderen Körperhaltung aus einem Marschthema etwas so Wolkenbehaftetes gemacht - als ob eine Pauke schweben könnte. Das war faszinierend. Ich habe mein Gehör durch diese Londoner Zeit geschult.

BR-KLASSIK: Schöne Bilder, die sie da verwenden. Ist Ihnen das auch beim Proben wichtig?

Clemens Schuldt: Wenn sie Sinn ergeben: unbedingt! Ich glaube, dass wir vielmehr assoziativ Musik machen sollten. Wir sind keine Wissenschaftler.

Das Gespräch führte Bernhard Neuhoff für BR-KLASSIK.

Radio-Tipp

20. Oktober, 20.03 Uhr, BR-KLASSIK
Übertragung des Konzerts vom 13. Oktober 2016 mit dem Münchener Kammerorchester und seinem neuen Künstlerischen Leiter Clemens Schuldt

22. Oktober 2016, 11.05 Uhr, BR-KLASSIK
Clemens Schuldt zu Gast bei Bernhard Neuhoff in Meine Musik

Konzert-Tipp

22. Oktober 2016, 22.00 Uhr
Nachtmusik in der Pinakothek der Moderne - Komponistenporträt Jörg Widmann
Münchener Kammerorchester
Stefan Schilli, Oboe
Jörg Widmann, Dirigent und Klarinette

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