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Erinnerung an NS-Opfer 100.000ster Stolperstein in Nürnberg verlegt

Sie erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus – die sogenannten Stolpersteine, goldglänzende Pflastersteine mit eingravierten Namen. Seit den Neunzigern verlegt sie der Künstler Gunter Demnig in ganz Europa. Am Freitag setzt er den 100.000sten in Nürnberg. Wir haben mit ihm darüber gesprochen.

Der Künstler Gunter Demnig hält einen Stolperstein in die Kamera | Bildquelle: picture alliance

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Adorno fand sie richtig toll. Und er war nicht der einzige. Magda Spiegel war einer der deutschen Opernstars der Zwanziger und Dreißiger. Eine internationale Größe, vor allem als Wagnersängerin. Und ein Local Hero, das Aushängeschild der Frankfurter Oper. Bis die Nazis an die Macht kamen. 1935 Berufsverbot. Sieben Jahre später die Deportation nach Theresienstadt. 1944 wird sie in Auschwitz ermordet.

In Nürnberg wird der 100.000ste Stolperstein verlegt

Die Spur, die noch heute zu Magda Spiegel führt, liegt auf dem Gehweg vor der Holzhausenstraße, Hausnummer 16, im Frankfurter Nordend. Ein Pflasterstein, golden, mit eingraviertem Namen. Seit 2006 erinnert er an sie. Als einer von insgesamt 100.000. So viele Stolpersteine wurden in den letzten knapp 30 Jahren europaweit verlegt, um den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken. Das wahrscheinlich größte Erinnerungsprojekt der Welt – das dennoch nur einen Bruchteil der tatsächlichen Opferzahlen abbildet.

Ins Leben gerufen hat das Projekt der Künstler Gunter Demnig. Dass es jemals diese Dimensionen annehmen würde, sei für ihn überhaupt nicht absehbar gewesen, sagt er im Gespräch mit dem BR. "Aber es sind einfach so viele Angehörige, die sich diese Steine wünschen, sonst wäre ich nie auf diese Zahl gekommen." Noch heute ist Demnig, mittlerweile weit über 70, in ganz Europa unterwegs, um neue Stolpersteine zu verlegen. Am Freitag ist er in Nürnberg, in der Bartholomäusstraße 29a will er den exakt 100.000sten Stolperstein in den Boden setzen, dem Feuerwehrmann Johann Wild gewidmet. Ein Sozialdemokrat, der 1941 festgenommen und von den Nazis hingerichtet wurde.

Gunter Demnig hatte immer wieder mit Widerständen zu kämpfen

Begonnen hat Demnig Anfang der Neunziger in Köln. Eigentlich habe er Wandtafeln aufhängen wollen, erzählt er. "Das war der ursprüngliche Gedanke. Aber dann hat mir ein befreundeter Jude, der damals beim WDR gearbeitet hat, gesagt: 'Tafeln an der Wand? Vergiss es! 80 bis 90 Prozent der Hausbesitzer würden das niemals zulassen.' Und daher kam dann die Überlegung, auf die Straße zu gehen." Dass diese Sorge nicht ganz unbegründet war, zeigt die Geschichte des Projekts. Immer wieder hatte Demnig mit Widerständen zu kämpfen. "In Villingen-Schwenningen haben sich Immobilienbesitzer gewehrt mit dem Argument, wenn dort Stolpersteine lägen, könnten sie ihre Häuser nicht mehr verkaufen." Mittlerweile war Demnig schon mehrmals dort, um Stolpersteine zu verlegen.

Schwerer als dieser Widerstand wogen die Bedenken, die Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelischen Kultusgemeinde, 2014 im Münchner Stadtrat gegen die Stolpersteine vorbrachte. Das Andenken der Opfer werde dadurch im Wortsinn mit Füßen getreten, so Knobloch, die den Nationalsozialismus versteckt auf einem fränkischen Bauernhof überlebte. Der Stadtrat schloss sich dieser Beurteilung an. Bis heute dürfen in der bayerischen Landeshauptstadt auf öffentlichem Grund keine Stolpersteine verlegt werden.

Das Interesse an den Stolpersteinen steigt

Darauf angesprochen wirkt Demnig immer noch angefasst. Er habe noch, bevor er das Projekt in Angriff genommen habe, den Rat des Kölner Rabbiners eingeholt, erklärt er. "Der meinte sofort, das sei doch kein Problem, es seien ja keine Grabsteine." Die meisten Menschen würden auch gar nicht achtlos über die Steine trampeln, meint Demnig. "Die machen einen Bogen und lesen." Im den Jahrzehnten seiner Arbeit habe er vor allem positive Reaktionen erfahren. "Gerade auf meiner momentanen Fahrt habe ich wieder so schöne Treffen mit Angehörigen erlebt. Und man merkt auch: Die fahren mit einem anderen Deutschlandbild wieder nach Hause. Einmal hat mir jemand aus England gesagt: 'Jetzt kann ich wieder nach Deutschland kommen.' Und einer aus Norwegen hat mir mal gesagt: 'Schön, dass damit ein deutscher Künstler zu uns kommt, auch wenn es erst nach 70 Jahren ist'."

In 21 europäischen Ländern gibt es inzwischen Stolpersteine. Und Demnigs Team ist in den letzten Jahren gewachsen. Elf Leute beschäftigt er mittlerweile. Und das Interesse steige weiter, sagt er. Was die Stolpersteine bewirkten, könne eben kein Geschichtsbuch leisten: dieses Blinken im Augenwinkel, das den Alltag stört, das den Blick auf ein Schicksal lenkt, das so weit weg ist und doch genau hier seinen Lauf nahm. Ein Schicksal wie das von Johann Wild – oder Magda Spiegel.   

Sendung: "Allegro" am 26. Mai ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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