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Interview mit Heinz Holliger "Gerhaher geht an psychische Grenzen"

Claude Debussy fasziniert ihn schon seit seiner Kindheit. Jetzt dirigiert Heinz Holliger mehrere Werke des französischen Impressionisten beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Warum Holliger den Begriff "Impressionismus" ablehnt und was ihn an der Stimme von Solist Christian Gerhaher fasziniert, verrät er im Interview mit BR-KLASSIK.

Oboist, Komponist, Dirigent Heinz Holliger | Bildquelle: © Priska Ketterer

Bildquelle: © Priska Ketterer

BR-KLASSIK: Herr Holliger, würden Sie Debussy als "Wahlverwandten" bezeichnen?

Heinz Holliger: Debussy ist seit meiner Kindheit einer meiner engsten Begleiter. Ich habe mit zwölf Jahren Musik im Debussy- und Ravel-Stil komponiert. Ich finde, Debussy gehört zu den abgründigsten Komponisten, die es überhaupt gibt. Man schiebt ihn ständig nur in die Impressionisten-Schublade und kennt ohnehin nur ganz wenig. Auch den Menschen kennt man eigentlich nicht. Debussy war ein hochkomplexer Mensch – sehr depressiv. Er hatte große Schwierigkeiten mit Kontakten. Er hatte auch viele Feinde und war am Schluss völlig vereinsamt. Vielleicht hatte er am Ende noch vier oder fünf enge Freunde. 18 Leute sind beim Begräbnis seinem Sarg gefolgt, während die Deutschen mit Kanonen auf Paris geschossen haben.

BR-KLASSIK: Sie dirigieren im Konzert auch Debussys "Prélude à l'après-midi d'un faune". Was bedeutet Ihnen das Stück?

Heinz Holliger: Das "Prélude à l'après-midi d'un faune" ist der Beweis dafür, dass Debussy große Dichtung in ganz verschiedener Gestalt darstellen oder von ihr reden kann – dass er ebenso nah beim Dichter Mallarmé ist, wenn er die Worte weglässt. Das ist für mich ein völlig normaler Gedanke. Denn ich habe kaum je ein Stück komponiert, ohne dass irgendein Text dahinter steckt. Musik ist für mich sowieso eine Meta-Sprache, die beginnt, wenn die Sprache aufhört. Vielleicht ist dieses Prélude die Verlängerung der Sprach-Musik von Mallarmé bis ins Kosmische hinaus. Debussy bleibt nie im Illustrativen stecken. Es ist im Gegenteil eine ganz strenge Studie über Polymetrik, über die verschiedenen Wahrnehmungen von Zeit – dass manche Objekte sich langsam und gleichzeitig schneller bewegen. Daher ist dieses Prélude auch, wie Boulez sagt, eines der ersten Avantgarde-Stücke. Es ist zwar einigermaßen zugänglich für den Hörer, aber es hat keine Themen im üblichen Sinn, sondern alles schwebt eigentlich. Wie Debussy selbst sagt: Es klingt, als wäre es gar nicht geschrieben, sondern nur geträumt. Ich finde, Träume können von einer unglaublich präzisen Logik sein, ganz durchstrukturiert. Es gibt in diesem Prélude so viel Struktur wie in jeder Bach-Fuge. Dieses blöde Schlagwort "Impressionismus" ist meiner Meinung nach eine totale Beleidigung – übrigens auch für die Maler. Es gibt in dieser Musik eine Transzendenz im beinahe mystischen Sinne. Aber für so etwas sind unsere Ohren leider sehr wenig trainiert.

BR-KLASSIK: Auf dem Konzertprogramm steht auch "Dämmerlicht", eine Eigenkomposition von Ihnen. Wie passt dieser Liederzyklus zu dem Debussy-Programm?

Heinz Holliger: Es ist das wie eine Verlängerung der Klangwelt Debussys in eine viel komplexere, aber auch labyrinthischere Klangwelt hinein, aber es bleibt wieder genau die Balance zwischen Wort und Klang. Es sind Haikus mit 17 Silben, die ich vertont habe. Auch Debussy hat sich sehr mit asiatischer Kunst auseinander gesetzt. Ravel hat japanische Kunst gesammelt, und Strawinsky japanische Lyrik vertont. All dieses passierte gleichzeitig – um 1912. Meine Stücke beziehen sich nicht direkt auf Debussy, aber meine Klangwelt ist sozusagen bei Debussy zu Hause, ohne je irgendwelche direkten Anleihen zu machen. Ähnlich wie bei Debussy ist bei mir, dass aus einem einzigen Phonem oder Wortklang riesige Gebäude gebaut werden. Man könnte die Gedichte, die ich vertont habe, in 25 oder 30 Sekunden lesen. Das Stück dauert aber 23 Minuten. Das Zeitempfinden wird gleichsam aufgehoben. Unser westliches Zeitempfinden wird quasi durch das Zeitempfinden eines Zen-Gartens ersetzt: Die Ewigkeit wird in einen Augenblick eingepackt. Musik ist fähig, das Zeitbewusstsein völlig aufzuheben. Und davon handelt letztlich mein Zyklus "Dämmerlicht".

BR-KLASSIK: Solist des Abends ist Christian Gerhaher. Was schätzen Sie an seiner Baritonstimme?

Heinz Holliger: Erstens schätze ich seine unglaubliche sprachliche Sensibilität, also wie er mit Sprache umgeht; und dann auch, dass dieser Bariton eigentlich immer ein bisschen über dem Boden schwebt. Er kommt nie polternd daher und umfasst sämtliche Seelenlagen von der tiefsten, intimsten Innenschau bis zur Ausgelassenheit. Er geht sozusagen an psychische Grenzen. Ihm beziehungsweise seiner Stimme ist nichts fremd. Gerhaher ist ein Musiker, der nicht einfach Musiker ist, sondern ein Mensch, wo alles zusammenkommt. Er verfügt über eine riesige Bildung, kennt sich wirklich aus in Literatur. Worte bedeuten ihm mehr als nur sprechen.

Das Gespräch für BR-KLASSIK führte Fridemann Leipold.

Konzert-Tipp

Donnerstag, 9. und Freitag, 10. Juni, 20 Uhr
München, Herkulessaal

Werke von Claude Debussy und Heinz Holliger

Sarah Maria Sun, Sopran
Christian Gerhaher, Bariton
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Heinz Holliger, Dirigent

BR-KLASSIK überträgt das Konzert am Freitag live.

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