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Kommentar zum Internationalen Jazztag 2021 Musik der offenen Lösungen

Frei sein, ohne, dass jemand vorher irgendetwas aufschreiben muss, das gehört seit jeher zum Jazz: Die ihn spielen, sind flexibel. Die meisten von ihnen schaffen das Wesentliche ihrer Musik jeden Abend neu. Möglich ist das nur, wenn hinter den Tönen ein weiter Horizont steht. Und ausgerechnet die flexibelsten musikalischen Künstler fallen am meisten durchs Raster einer offenbar unflexiblen Politik, beklagt Roland Spiegel.

Zugabe: Saxofonspieler | Bildquelle: Colorbox, Montage: BR

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Der Trompeter Chet Baker winkte ab. Ein Kollege wollte ihm die Akkorde zu einem Stück aufschreiben, bevor die Aufnahme startete. Baker sagte: "Ich brauche die Akkorde nicht, ich kenne doch die Melodie." Und er spielte dann natürlich nicht die Melodie, sondern eine Improvisation über deren harmonischem Schema. Frei. Ohne, dass ihm jemand irgendetwas aufschreiben musste. Das gehört seit rund 100 Jahren zum Jazz: Die ihn spielen, sind flexibel. Die meisten von ihnen schaffen das Wesentliche ihrer Musik jeden Abend neu. Seit den 1960er-Jahren können Viele ihre Musik auch völlig aus dem Moment schöpfen. Musikerinnen und Musiker des Free Jazz brauchten für ihre Konzerte nur ihre Instrumente und Inspiration – und keine einzige vorher festgelegte Note. Und seit den 1970er-Jahren hat der Pianist Keith Jarrett mit musikalischen Marathon-Strecken Furore gemacht, für die laut seiner eigenen Aussage kein Ton vorher feststand.

Ein Horizont hinter den Tönen

Möglich ist das nur, wenn hinter den Tönen ein weiter Horizont steht. Wer improvisiert, muss nicht nur auf dem Instrument besonders sicher sein, sondern auch eine absolut zuverlässige Orientierung im Raum – oder sagen wir ruhig: im Kosmos – der Töne haben. Nur dann entsteht Musik, die so lebendig ist wie die von Louis Armstrong, so stilvoll wie die von Chet Baker, so vielgestaltig und formal schlüssig wie die von Keith Jarrett – und so aufregend und abenteuerlustig wie die von dem Free-Jazzer-Cecil Taylor oder die des großen deutschen Posaunen-Neudenkers Albert Mangelsdorff. Oder so bewegend neu und berührend wie die der Bassistin und Sängerin Esperanza Spalding. So anders und fein wie die der Schlagzeugerin Eva Klesse, die in den letzten Jahren immer wieder für Aufhorchen gesorgt hat: Leise und mit vielen zarten Momenten reagieren ihre Töne auf die aktuelle Zeit – in der Musik eine neue Feinfühligkeit entwickelt hat, und dies gerade im Jazz.

Sie sind Leute, die sich nichts vorschreiben lassen und anderen möglichst wenig vorschreiben. Die es gelernt haben, ihre Kunst auf den Moment zu fokussieren. So verwundert es nicht, dass gerade Jazzmusikerinnen und -musiker sehr früh in Zeiten der Pandemie Konzepte entwickelten, um ihr Publikum zumindest online zu erreichen. Sie streamten Konzerte, entwickelten Formate, in denen sie auch über die speziellen Herausforderungen in diesen Zeiten sprachen. Und dennoch: Viele von ihnen leiden besonders stark unter dem lahmgelegten Kulturbetrieb. Viele sind freischaffend tätig, leben von den Konzerten, die sie geben, und vom Verkauf ihrer Tonträger. Letzterer ist schon lange ein Krisengeschäft. Ersteres ist Vielen zurzeit nicht möglich. Reihenweise teilen Musikerinnen und Musiker mit, dass sie in jüngerer Zeit ihren Beruf gewechselt haben – weil sie von ihrem, für den sie studiert und gerackert haben und in dem sie exzellente Qualitäten entwickelten, weder sich noch ihre Familie ernähren können.

Flexible Künstler und unflexible Politik

Ausgerechnet die flexibelsten musikalischen Künstler fallen am meisten durchs Raster einer offenbar unflexiblen Politik. Einer Politik, die in der Lage ist, im Corona-Jahr 2021 für Fußballspiele bei der EM 14.500 Besucher in einem Stadion zuzulassen, aber für das ersehnte Neu-Aufleben der Kultur überhaupt keine Konzepte genehmigt. 500 Besucher statt über 2.000 in der Oper? 40 Besucher statt 150 in einem Jazzclub? Kein Land in Sicht. Die Politik folgt einem starren Schema. Weder Melodie noch Akkorde haben in ihm Platz. Keine Musik, kein Kino, kein Theater. Am heutigen internationalen Jazztag wäre Gelegenheit, sich von einer sehr beweglichen und differenzierten Musik und ihrem weiten Horizont inspirieren zu lassen und neu über Konzepte nachzudenken – vielleicht mit Hilfe des Bundespräsidenten, der erklärter Jazzfan ist. Der Jazz und mit ihm alle anderen Künste dürfen nicht mehr weiter ins Abseits gestellt werden. Für viele Menschen sind sie lebenswichtig, mit und ohne Noten.

Sendung: "Allegro" am 30. April 2021 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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