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Der Dirigent Andris Nelsons im Interivew "Wir sind durstig nach einer Extraportion Kultur"

Es ist wieder soweit: Das BRSO spielt vor Publikum. An drei Tagen dirigiert Andris Nelsons insgesamt fünfmal ein reines Schostakowitsch-Programm. Im Interview erzählt der Dirigent, warum er Schostakowitschs Neunte für das mutigste Werk dieses Komponisten hält – und wie ihm Taekwondo über die Pandemie hinweg half.

Dirigent Andris Nelsons | Bildquelle: dpa/Jan Woitas

Bildquelle: dpa/Jan Woitas

BR-KLASSIK: Im Oktober 2016 haben Sie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks das letzte Mal dirigiert. Wie fühlt es sich für Sie an, jetzt wieder unter diesen ganz anderen Umständen zurück zu sein?

Andris Nelsons: Ich freue mich wirklich sehr, wieder mit dem Symphonieorchesters des BR zu spielen. Es ist fantastisch, Musikerinnen und Musiker tatsächlich wieder mit Instrumenten in den Händen zu sehen. Das genieße ich gerade sehr. Das Orchester konnte in den letzten Monaten ja sogar proben und auftreten – wenn auch leider ohne Publikum. Das vermissen wir natürlich alle sehr, denn wir spielen unsere Konzerte ja für die Menschen. Darum möchte ich alle ermutigen – natürlich im Rahmen der geltenden Regeln – wieder anzufangen Konzerte zu besuchen. Nach diesem verlorenen Jahr sind wir doch alle durstig nach Kultur und brauchen eine Extraportion davon.

75 Prozent weniger Arbeit durch Corona

BR-KLASSIK: Als Kapellmeister beim Gewandhausorchester in Leipzig und Chefdirigent beim Boston Symphony Orchestra sind Sie immer viel zwischen Europa und den USA hin- und hergereist. Dazu kommen noch etliche Gastdirigate weltweit. Plötzlich ist da diese Pandemie und stellt die Welt auf den Kopf. Wie schwer war das vergangene Jahr für Sie?

Andris Nelsons bei der Probe mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal | Bildquelle: © Peter Meisel Andris Nelsons 2016 im Münchner Herkulessaal bei der Probe mit dem BRSO | Bildquelle: © Peter Meisel Andris Nelsons: Die Zeit war für mich und für viele andere, die sonst ein sehr hektisches Leben führen, mit vielen Reisen und vielen Proben, plötzlich sehr ruhig. Ich denke, mein Arbeitspensum hat sich um 75 Prozent reduziert, verglichen mit normalen Jahren davor. Natürlich denke ich an all die Menschen, die selbst an Covid-19 erkrankt sind und an die, die um ihre Angehörigen trauern. Diese Pandemie ist wirklich ganz schrecklich. Ich habe die Hoffnung, dass die Menschheit daraus lernen wird, wie man so etwas auf verschiedenen Ebenen verhindern kann. Wir müssen die wahren Prioritäten im Leben erkennen. Und da spreche ich nicht nur von Medizin und Nahrung. Es geht auch um unsere seelische Gesundheit. Herz und Seele sind genauso wichtig, und dafür brauchen wir die Musik und die Kunst. Das darf man nicht vergessen. Ich denke, wir haben auf der anderen Seite auch begriffen, dass wir den Augenblick genießen müssen. Ich möchte optimistisch bleiben und hoffe, dass wir so etwas nicht so bald nochmal erleben. In jedem Fall ist uns in dieser Zeit die Bedeutung von Geduld, Freundschaft und Verzicht klargeworden.

Es gibt viele Türen, die man öffnen kann. Vielleicht sogar bei jedem Konzert eine andere.
Andris Nelsons dirigiert in drei Tagen fünf Konzerte

BR-KLASSIK: Das Schostakowitsch-Programm mit dem Violinkonzert Nr. 2 in cis-Moll op. 129 und der Symphonie Nr. 9 Es-Dur op. 70 dirigieren Sie gleich fünfmal in drei Tagen. Haben Sie eine besondere Strategie für sich, um konzentriert zu bleiben?

Andris Nelsons: Wir sind sehr froh, dass wir mehr Konzerte spielen können, damit auch mehr Leute kommen können. Ich persönlich habe keine Strategie, um die physische Anstrengung zu bewältigen. Man muss einfach immer zu hundert Prozent da sein. Die Einstellung zur Musik und wie wir dem Publikum ein Werk näher bringen wollen, bleibt im Grunde immer gleich. Was sich aber ändert, sind die Türen, durch die man an einem Abend musikalisch gehen kann. Das hat viel mit der eigenen Interpretation zu tun, mit Fantasie, aber manchmal eben auch mit Spontanität, durch die man dann eine andere Richtung einschlägt. Es gibt viele Türen, die man öffnen kann. Vielleicht sogar bei jedem Konzert eine andere.

Mit Taekwondo durch die Pandemie

BR-KLASSIK: Sie haben mal erwähnt, dass Ihnen Taekwondo dabei geholfen hat, diese Energie des Augenblicks richtig zu spüren und fließen zu lassen.

Andris Nelsons: Mit elf Jahren habe ich mit Kampfsport angefangen, bis ich ungefähr 18 war. Und ziemlich genau vor einem Jahr, nach einer 22-jährigen Pause, habe ich nun wieder damit begonnen. Durch die Corona-Pandemie ist mir mein eigener Körper wichtiger geworden. Denn die physische Gesundheit ist Voraussetzung dafür, mit seinem Geist in Einklang zu kommen. Taekwondo und Karate sind gut für Selbstdisziplin und für die eigene Entscheidungskraft. Das beeinflusst auch musikalische Entscheidungen auf der Bühne, ob ich jetzt den linken oder den rechten Pfad wähle. Das Ziel bleibt dasselbe, aber die Wege dahin können unterschiedlich sein. Und bei Auftritten hilft das auch mental sehr, denke ich.

Für mich ist diese Komposition wahrscheinlich das Mutigste, was er je gemacht hat.
Dirigent Andris Nelsons über Schostakowitschs 9. Symphonie

BR-KLASSIK: Mit Dmitrij Schostakowitsch beschäftigen Sie sich seit Jahren intensiv. Zusammen mit Ihrem Boston Symphony Orchestra nehmen Sie für die Deutsche Grammophon alle fünfzehn Symphonien auf. Die 9. Symphonie wurde kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs uraufgeführt. Was würden Sie sagen, inwiefern diese Symphonie entscheidend war für die Entwicklung von Schostakowitsch? Nicht nur bezogen auf seine späteren Werke, sondern auch für seine Sicht auf die Welt?

Dmitrij Schostakowitsch. Foto, 1958 | Bildquelle: picture-alliance / RIA Nowosti Der Komponist Dmitrij Schostakowitsch | Bildquelle: picture-alliance / RIA Nowosti Andris Nelsons: Alle hatten eine Siegessymphonie für die Sowjetunion erwartet. Schostakowitsch hatte ursprünglich sogar gesagt, dass er eine Symphonie mit großem Chor schreiben will, ganz nach dem Vorbild von Beethovens Neunter. Doch schon nach den ersten Takten wird klar, was da auf uns zukommt. Man denkt: Oh Mann, das ist jetzt aber was ganz Anderes. Für mich ist diese Komposition wahrscheinlich das Mutigste, was er je gemacht hat.
Der Anfang erinnert an Haydn, und dann kommt die Posaune, wie ein Betrunkener auf der Straße. Da steckt Haydns Humor drin, aber auch viel Sarkasmus. In dieser Symphonie wird er doch sehr düster. Alles wird ins Lächerliche gezogen, im dritten Satz ist alles wie in einem Zirkus.
Mit diesem Werk hat er jeden schockiert. Nach dieser Neunten hat Schostakowitsch viele Jahre lang gar keine Symphonien mehr komponiert, im Grunde bis zu Stalins Tod. Seine letzten Symphonien und auch sein 2. Violinkonzert schauen bereits in eine andere Richtung. Schostakowitsch war zum Ende seines Lebens todkrank. Er hatte zwar Angst vor dem Tod, aber keine mehr vor dem Regime, gegen das er gekämpft hat.

Infos zum Konzert

Donnerstag, 03. Juni 2021, 18:00 Uhr
Donnerstag, 03. Juni 2021, 20:30 Uhr
Freitag, 04. Juni 2021, 18:00 Uhr
Freitag, 04. Juni 2021, 20:30 Uhr
Samstag, 05. Juni 2021, 19:00 Uhr
München, Gasteig

Dmitrij Schostakowitsch:
Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 cis-Moll op. 129
Symphonie Nr. 9 Es-Dur op. 70

Baida Skride (Violine)
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Leitung: Andris Nelsons

Sendung"Leporello" am 4. Juni 2021 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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