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Esa-Pekka Salonen - Dirigent und Komponist "Es herrscht ein neuer freier Geist in der nordischen Musik"

Patriot und Kosmopolit gleichzeitig - geht das? Zumindest für Esa-Pekka Salonen ist diese Kombination kein Problem. Das Programm, das er mit dem BR-Symphonieorchester am 6. und 8. Oktober zur Aufführung bringt, ist ganz auf sein Heimatland Finnland zugeschnitten - anlässlich des hundertsten Jahrestags der Finnischen Unabhängigkeit. Über sein Verhältnis zu Finnland und zur Musik des großen finnischen Komponisten Jean Sibelius spricht Salonen im Interview.

Esa-Pekka Salonen | Bildquelle: Benjamin Suomela

Bildquelle: Benjamin Suomela

BR-KLASSIK: Esa-Pekka Salonen, in diesem Jahr wird in Finnland der hundertste Jahrestag der Unabhängigkeit gefeiert. Ist das auch ein Grund für Sie, 2017 möglichst viel finnische Musik zu dirigieren und ein Programm wie dieses zu konzipieren, das Sie jetzt mit dem BR-Symphonieorchester zur Aufführung bringen?

Esa-Pekka Salonen: Die Feierlichkeiten haben schon etwas damit zu tun. Allerdings sehe ich mich nicht als Handelsvertreter für finnische Musik. Trotzdem ist dieses Jahr ganz besonders. Meine Programme sollen Tradition und Gegenwart verbinden. Wie dieses heute Abend eben auch mit den beiden zeitgenössischen Werken und zwei Symphonien von Jean Sibelius. Mir gefällt die Idee, 100 Jahre finnische Unabhängigkeit zu feiern - aber mit dem Blick in die Zukunft.

Irgendwann war ich an einem Punkt angekommen, da wollte ich nur noch fort von Sibelius.
Esa-Pekka Salonen

BR-KLASSIK: Jean Sibelius ist ja DER Protagonist der finnischen Musik. Sie haben selbst an der Sibelius-Akademie studiert, sind Dirigent und Komponist. Ist Sibelius für Sie eine Art Übervater oder können Sie sich auch kritisch von seinem Oeuvre distanzieren?

Esa-Pekka Salonen | Bildquelle: Minna Hatinen, Finnish National Opera and Ballet Esa-Pekka Salonen | Bildquelle: Minna Hatinen, Finnish National Opera and Ballet Esa-Pekka Salonen: Ich bin in Helsinki aufgewachsen und habe an der Sibelius-Akademie studiert. Irgendwann war ich an einem Punkt angekommen, da wollte ich nur noch fort von Sibelius, von allem. Ich bin dann nach Italien gegangen, um bei Niccolo Castiglioni und Franco Donatoni Komposition zu studieren. Ich dachte mir, dass Italien eine relativ Sibelius-freie Zone sein müsste. Das war dann auch so, eine völlig andere Kultur. Dann passierte etwas Komisches. In einem Antiquariat in der Nähe der Scala habe ich in einem Stapel alter Partituren die Fünfte Symphonie von Sibelius entdeckt. Sie kostete damals ungefähr 500 Lire, also so viel wie ein Espresso. Ich habe sie gekauft und gleich im Bus auf dem Weg zu meiner Wohnung in einem Mailänder Vorort aufgeschlagen - und sofort sah ich: Diese Musik war etwas komplett Anderes, weit weg vom Mainstream. Das packte mich, und so kam ich sozusagen wieder zu Sibelius zurück. Aber nicht, weil er mein Übervater gewesen wäre, sondern weil er plötzlich zu einem kosmopolitischen Komponisten wurde, der zufällig ein Finne war. Auch jetzt halte ich ihn für einen großartigen Komponisten, wobei die Nationalität keinerlei Rolle spielt.

BR-KLASSIK: Das heißt, Sie sind auch selbst sehr unabhängig davon, Finne zu sein oder als finnischer Komponist verstanden zu werden?

Esa-Pekka Salonen: Obwohl ich über dreißig Jahre im Ausland gelebt habe, hat sich mein Selbstverständnis nicht groß verändert. Ich sehe mich als finnischen Komponisten und fühle mich auch als Finne. Wenn Sie mich mitten in der Nacht nach meiner Identität fragen, würde ich immer antworten: Ich bin Finne. Da besteht kein Zweifel. Das hat mit meiner Sprache, meiner Herkunft zu tun, aber auch mit der Natur und der nordischen, offenen, gut organisierten Gesellschaft. Ich bin immer froh, wieder nach Finnland oder überhaupt nach Skandinavien zurückzukehren. Denn hier denken die Leute wenigstens noch rational. Im Gegensatz zu so vielen anderen Orten auf der Welt, wo alles drunter und drüber geht.

Man muss die ganze Menschheit als eine Einheit betrachten.
Esa-Pekka Salonen

BR-KLASSIK: Sie sagten vorhin, dass Sie zum hundertjährigen Jubiläum der finnischen Unabhängigkeit in die Zukunft schauen möchten. welche Visionen und Vorstellungen verbinden Sie mit dieser Zukunft?

Esa-Pekka Salonen: Die Zukunft Finnlands ist natürlich eng mit der Zukunft der gesamten Welt verbunden. Heutzutage sind wir alle in globale Fragen involviert. Wir alle müssen uns mit dem Klimawandel, der Erderwärmung,, der Luftverschmutzung beschäftigen. Niemand kann also nur an sein eigenes Land denken. Man muss die ganze Menschheit als eine Einheit betrachten.

Esa-Pekka Salonen | Bildquelle: Mika Ranta Esa-Pekka Salonen | Bildquelle: Mika Ranta Was die finnische Musik betrifft, bin ich recht zuversichtlich. In Finnland gibt es immer noch sehr viele Talente, die stark gefördert werden - Komponisten, Instrumentalisten, Sänger und Dirigenten. Es herrscht ein neuer freier Geist in der nordischen Musik - abseits vom Mainstream, von dieser Art Post-Darmstadt oder Post-Überhaupt. Die junge Generation scheint sich da völlig frei zu fühlen. Sie denkt nicht über Richtig und Falsch nach, wie das noch in meiner Generation üblich war. Ich bin ja in einer sehr strikten postseriellen Boulez-Tradition groß geworden. Ich musste mich davon schon sehr freistrampeln, um meinen eigenen Weg zu finden. Die Jungen haben das Problem überhaupt nicht. Sie machen, was sie wollen, und was sie interessant finden. Und die Finnen scheinen die Musik noch immer sehr zu mögen, die Konzertsäle sind voll. Es gibt fast jeden Abend irgendwo ein tolles Konzert.

Es ist reduziert, das Wesentliche ist herauskristallisiert.
Esa-Pekka Salonen über Sibelius' Symphonie Nr. 6

BR-KLASSIK: Sprechen wir über die Musik dieses Abends. Jean Sibelius' Sechste Symphonie ist vor gut hundert Jahren entstanden. Der Komponist selbst hat gesagt, er sei als Künstler nur ein Werkzeug. Welche innere Logik eröffnet sich Ihnen in diesem Stück?

Jean Sibelius | Bildquelle: Erik Tawaststjerna, "Jean Sibelius", Salzburg 2005 Jean Sibelius | Bildquelle: Erik Tawaststjerna, "Jean Sibelius", Salzburg 2005 Esa-Pekka Salonen: In seiner Sechsten Symphonie verwendet Sibelius das musikalische Material sehr ökonomisch. Er arbeitet hier mit sehr wenigen Noten. Es erinnert eher an das Wachsen in einem Garten, als an ein Zusammensetzen. Die Noten erscheinen wie die DNA oder wie Samen, die Sibelius einpflanzt. Dann beginnen sie zu wachsen. Er arbeitet wie ein Gärtner, einige Pflanzen werden bewässert, andere werden ausgerupft und weggeworfen. Diese Musik kommt einem so vor, als wäre sie von ganz allein gewachsen. Seine Sechste Symphonie ist die introvertierteste und am wenigsten demonstrative. Sie ist sehr direkt und irgendwie die am typischsten finnische. Sie ist größtenteils im dorischen Modus komponiert, einem uralten gregorianischen Modus, der ihr einen sehr archaischen Charakter verleiht. Trotzdem klingt sie sehr frisch. Mich berührt dieses Werk so, weil es so introvertiert ist. Und weil es keine überflüssigen Noten gibt, es ist reduziert, das Wesentliche ist herauskristallisiert. Es geht um das , was in der Musik wirklich zählt.

BR-KLASSIK: Ist das der Grund, warum Sie auch ein Stück Ihrer Komponistenkollegin und Freundin Kaija Saariaho vorangestellt haben - eine Musik, die sich auf etwas Kristallenes reduziert hat?

Esa-Pekka Salonen: Ich wollte ein Stück an den Anfang stellen, das eine Atmosphäre von Raum kreieren kann. Es geht weniger um eine Dramaturgie. Dieses Stück ist eine Adaption eines Teils aus ihrem Oratorium "La passione de Simone", das auf den Texten und dem Leben von Simone Weil basiert. Es heißt "Lumière et pesanteur", also Licht und Schwerkraft. Dieses Stück öffnet sich wie eine Landschaft- ohne dialektische Eigenschaften, und bietet genau den richtigen Raum um in eine ganz andere besondere Räumlichkeit hinüberzugehen, nämlich in die von Sibelius' Sechste Symphonie. Es ist harmonisch zwar recht einfach, aber im Geiste sind sich beide Werke sehr nah.

Das musikalische Material verändert sich ständig, es erhält immer wieder andere Erscheinungsbilder.
Esa-Pekka Salonen über Sibelius' Symphonie Nr. 7

BR-KLASSIK: Sibelius' Siebte Symphonie entstand fast zeitgleich mit der Sechsten und besteht nur aus einem einzigen Satz von gut zwanzig Minuten Dauer. Welche innere Ordnung findet sich in diesem Werk?

Esa-Pekka Salonen: In dieser Symphonie kam Sibelius dem Wesen der Natur am nächsten. Also nicht der Natur auf der Postkarte, sondern als Prozess, in dem sich alles in etwas Anderes durch Mutationen verwandelt. Nehmen wir den Lebenszyklus eines Schmetterlings. Er durchläuft drei Phasen der Metamorphose, auch wenn die DNA natürlich immer dieselbe bleibt. Genauso entwickelt sich die Siebte Symphonie. Die DNA ist schon da, aber sie durchläuft diese Metamorphose. Das musikalische Material verändert sich ständig, es erhält immer wieder andere Erscheinungsbilder. Und daraus resultiert ein völlig anderer Umgang mit der Form. Die Siebte Symphonie hinterlässt einen viel tieferen Eindruck von der Form als von der Melodie, der Stimmung oder der Emotion. Die Emotionen werden viel mehr durch die Metaphern angeregt. Wenn die Siebte Symphonie gut gespielt ist, löst sie im Zuhörer eine Empfindung aus, als würde ein vereister Fluss im Frühling aufbrechen. Das ist ein großartiges Schauspiel, ein unaufhaltsamer Prozess. Das Eis muss aufbrechen, und sehr bald kann dann der Fluss wieder frei fließen.

Man hört das musikalische Material in verschiedenen Entwicklungsstadien.
Esa-Pekka Salonen über sein Violinkonzert

BR-KLASSIK: Und wie passt zu dieser Symphonie Ihr Violinkonzert - in der Dramaturgie, in der Abfolge des Hörens?

Esa-Pekka Salonen: Sie unterscheiden sich total. Aber mir gefällt die Vorstellung, dass sich eine DNA permanent weiterentwickelt. In meinem Violinkonzert gibt es Stellen, in denen ich diese Idee nachahme. Man hört das musikalische Material in verschiedenen Entwicklungsstadien. Manchmal kommt man ganz nah, manchmal ist man etwas weiter weg. Mein Violinkonzert hat vier Sätze, auch weil ich die Form sehr deutlich herausarbeiten wollte. Man soll der Geschichte gut folgen können.

BR-KLASSIK: Sie haben Ihr Violinkonzert kurz vor Ihrem fünfzigsten Geburtstag komponiert - beseelt von dem Gedanken, ein Resümee zu ziehen. Was war den damals die Summe Ihrer Erfahrungen - als Musiker und Mensch?

Esa-Pekka Salonen: Wenn ich das ausdrücken könnte, bräuchte ich keine Musik zu schreiben. Damals war ich in einer sehr seltsamen Lebensphase. Ich war kurz vor meinem Rücktritt beim Los Angeles Philharmonic Orchestra, wo ich 17 glückliche Jahre verbracht hatte und kurz davor, nach London zu gehen. Inmitten dieser Umbrüche habe ich dieses Stück geschrieben. Zugleich habe ich mich auch auf neue Abenteuer in meinem Leben gefreut. Wenn ich das Stück jetzt - einige Jahre später - anhöre, höre ich zum einen eine Art letzte Version von all dem , womit ich mich schon zuvor beschäftigt hatte. Und zum anderen gibt es da auch schon sehr viel von dem Neuen, was danach kam. Also eine Mischung aus Alt und Neu.

Die Fragen stellte Julia Schölzel für BR-KLASSIK.

Esa-Pekka Salonen in München

Freitag, 6. Oktober 2017, 20.00 Uhr
Sonntag, 8. Oktober 2017, 20.00 Uhr
München, Philharmonie im Gasteig

Kaija Saariaho: "Lumière et pesanteur"
Jean Sibelius:
Symphonie Nr. 6 d-Moll, op. 104
Esa-Pekka Salonen:
Violinkonzert
Jean Sibelius:
Symphonie Nr. 7 C-Dur, op. 105
Anton Barakhovsky (Violine)
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Leitung: Esa-Pekka Salonen

Live-Übertragung auf BR-KLASSIK am 6. Oktober

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