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Hervé Niquet im Interview "Reynaldo Hahn war ein Genie"

Mit "Ô mon bel inconnu" schrieb Reynaldo Hahn eine turbulente Komödie über einen Hutmacher, der mit einer Zeitungsannonce mehr durcheinanderwirbelt, als ihm lieb ist. Am 15. Oktober wird das Werk vom Münchner Rundfunkorchester aufgeführt. Der Dirigent Hervé Niquet spricht über die Kraft des Scherzes – 1933 wie heute.

Hervé Niquet | Bildquelle: © Eric Manas

Bildquelle: © Eric Manas

BR-KLASSIK: Reynaldo Hahn wird immer noch kaum gespielt – warum?

Hervé Niquet: Reynaldo Hahn war ein Genie, der seine erste Oper mit 18 Jahren schrieb, "'L'île du rêve", und das war gleich ein Meisterwerk – mit 18! Er war unfassbar begabt, hat alles aufgesaugt in vollen Zügen. Liebte die Musik, das Leben, die Salons, wurde verehrt von Männern wie Frauen, lebte ein sehr mondänes Leben, was ihn vielleicht bei manchen eher oberflächlich erscheinen ließ oder immer noch lässt. 

Einer der größten französischen Komponisten

Reynaldo Hahn | Bildquelle: © Gemälde von Lucie Lambert Bildquelle: © Gemälde von Lucie Lambert Aber er konnte Melodien von unendlicher Schönheit schreiben, und das über alle Genres hinweg, Kammermusik genauso wie Große Oper. Und weil er mit komischen Werken wie "Ô mon bel inconnu" großen Erfolg hatte, wird er gerne in die Ecke der sogenannten Leichten Kost gestellt. Aber er war ein ganz großer Künstler, der übrigens zu Lebzeiten auch als solcher gesehen wurde. Denn sonst wäre er sicher nicht Direktor der Pariser Oper geworden. Einem Emporkömmling der "Leichten Kost" hätte man sicher nicht eine solche Verantwortung übertragen, nein, er war einer der größten französischen Komponisten.

Uraufführung 1933 - in Frankreich die "Années Folles"

BR-KLASSIK: Was ist das für Musik in dem Stück?

Hervé Niquet: Es ist ein großer Spaß, Unterhaltung, Komödie. Sein Librettist, Sacha Guitry, war einer der bekanntesten Künstler der Zeit, Schauspieler, Autor für Film und Theater, eine öffentliche Person, die auch in Sachen Mode den Ton angibt, von den einen geliebt, von den anderen gehasst. Nach der schrecklichen Zeit im Ersten Weltkrieg war eine Phase angebrochen, die in Frankreich unter dem Namen "Années folles" bekannt ist, also "Verrückte Jahre" der Neuorientierung, die mit einem großen symbolischen Ausatmen der Erleichterung einhergehen. Und nach Jahren der ernsten Stoffe war jetzt die Zeit, um sich zu amüsieren – ein Segen!

BR-KLASSIK: Und was zeichnet Hahn musikalisch aus?

Hervé Niquet: Wie alle Genies kann er alle Stile und Genres bedienen. Wenn er eine klassische Tragödie liefern soll, dann wird er das tun und das Publikum zu Tränen rühren. Aber er kann eben auch mehrere Einflüsse miteinander vermischen, sie verbinden, daraus einen ganz eigenen französischen Stilmix machen, so wie hier. Und das ist übrigens auch das Wunderbare am Orchester hier, das sehr schnell etwa auf Jazzelemente reagieren, sie perfekt umsetzen kann. So wie Hahn auch, er verarbeitet immer unmittelbar. Und immer hat man das Gefühl, es ist genau richtig so, und nicht anders hätte es sein können.

BR-KLASSIK: Das Werk kennt ja kaum jemand, wie gehen Sie in den Proben vor – bereiten Sie heikle Details vor, die zuerst drankommen oder lassen Sie durchspielen?

Hervé Niquet: Eigentlich ist es ganz einfach. Reynaldo Hahn gibt uns den Weg vor, es gibt die Noten, den Text, die Dramaturgie ergibt sich von allein. Grob gesagt fange ich vorne an und höre hinten auf. Eine besondere Stelle am Saxofon ist dann gar nicht mehr so besonders, weil Hahn alles in die Noten geschrieben hat. Also ich muss gar nicht so viel erklären, nur genau die Partitur lesen.

BR-KLASSIK: Aber dann doch chronologisch?

Hervé Niquet: Na, die Chronologie wird schon allein dadurch aufgebrochen, indem wir mal Stellen ohne Sängerinnen und Sänger machen, oder nur mit einem Solisten und so weiter. Es ist ein bisschen wie mit einem Blätterteig: da mal eine Schicht, dann hier wieder eine. (lacht)

Wir arbeiten hart, lachen aber auch viel.
Hervé Niquet

BR-KLASSIK: Sie haben schon oft mit dem Rundfunkorchester zusammen gearbeitet. Wie kommt das deutsche Orchester mit dem unbekannten französischen Repertoire zurecht?

Hervé Niquet: Zum Glück klingen Orchester aus England anders als spanische und deutsche. Jeder Klangkörper ist verwurzelt in der Nation, Kultur, den Gewohnheiten, der Küche und so weiter. Und das ist auch gut so. Natürlich ist es für ein deutsches Orchester etwas Neues, diese Musik zu spielen. Aber wir kennen uns schon gut, die Musikerinnen und Musiker sind sehr anpassungsfähig, haben schon viel Erfahrung mit genau diesem Repertoire. Ich mache auch gerne mal was vor, oder ziehe irgendwelche Vergleiche und dann sagen sie immer sofort: Ah, jetzt weiß ich, was du meinst. Genau so machen wir's, abgehakt, nächste Nummer. Wir arbeiten viel und hart, lachen aber auch viel. Und das Rundfunkorchester ist wirklich sehr schnell im Umsetzen.

Die Weltpolitische Lage an der Probentür abgegen

BR-KLASSIK: Apropos lachen und Spaß. Das kann einem ja derzeit mit der weltpolitischen Lage auch vergehen. Ist das Thema in den Proben?

Hervé Niquet: Naja, sagen wir mal so: Wir haben auch unseren Job zu erledigen. Und hier steht nunmal die Aufführung und Live-Radioübertragung eines sehr heiteren, vergnügten Stücks auf dem Programm. Die weltpolitische Lage geht uns alle an, klar. Es gibt auch Momente, in denen man innehalten und sich darüber den Kopf zerbrechen sollte. Aber jetzt und hier geht es um die uneingeschränkt vergnügte Komödie, und dafür sind wir da. Es geht nicht, das eine perfekt zu liefern und sich gleichzeitig dem anderen zu widmen. Man würde daran zugrundegehen. Die politische Weltlage müssen wir, wenn man so will, an der Probentüre abgeben und den Humor, die Freude, das Vergnügen bewahren und uns nicht in die Nacht hinabziehen lassen.

BR-KLASSIK: Sie waren schon häufig hier zu Gast. Haben Sie schon einen Lieblingsort oder eine Beschäftigung in München?

Hervé Niquet: Ich habe nie viel Zeit, wenn ich in München bin. Die Proben gehen von 10 Uhr bis abends um halb sieben, manchmal auch halb acht. Das ist schon sehr fordernd, ich geh dann meistens müde ins Hotel. Aber wir haben einen freien Tag, und den nutze ich, um durch die Stadt zu spazieren, denn die hat viele schöne Ecken. Und Parks. Aber ich interessieren mich sehr für Geschichte, Architektur. Ich werde sicher in schöne Kirchen und Museen gehen. Und das brauche ich auch.

Weitere Informationen sowie das Programmheft finden Sie hier. BR-KLASSIK überträgt das Konzert am Sonntag, 15. Oktober live um 19:05 Uhr

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