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Zum Tod des Geigers Ivry Gitlis Sich ein Leben lang neu entdecken

"Glauben Sie, ich weiß alles über mich? Nein. Gott sei Dank! Und ich hoffe, bis zum letzten Moment meines Lebens werde ich nicht alles über mich wissen." Und bis zum letzten Atemzug hat sich der Geiger Ivry Gitlis selbst entdeckt. Jeden einzelnen Tag wollte er noch etwas Neues lernen, mit offenen Augen durch die Welt gehen. Die Meisten, sagte er, stellen nur noch Fragen, deren Antworten sie sowieso schon kennen. Diese Bequemlichkeit fand er unerträglich. Er hatte seinen ganz eigenen Blick auf die Zeit. An Heiligabend 2020 ist er in seiner Wahlheimat Paris im Alter von 98 Jahren gestorben.

Der israelisch-französische Violinist Ivry Gitlis | Bildquelle: BR

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Was ist die Gegenwart? Eh man sich versieht, ist eine kommende Sekunde schon wieder Vergangenheit.
Ivry Gitlis

Ivry Gitlis wurde 1922 in Haifa geboren. Mit fünf Jahren schenkten ihm seine Eltern die erste Geige, als Neunjähriger stand er schon auf der Bühne. Der Geiger Bronislaw Huberman, Gründer des Israel Philharmonic Orchestra, war der Erste, der an ihn glaubte. Er ermöglichte Gitlis einen Studienaufenthalt in Paris. Als 11-Jähriger kam er mit seiner Mutter nach Frankreich. Er studierte bei Geigengrößen wie Jacques Thibaud, Carl Flesch und George Enescu.

Radio-Tipp

Am 28. Dezember 2020 erinnert BR-KLASSIK mit zwei Sondersendungen an den Geiger Ivry Gitlis: Um 17:05 Uhr gibt's die Wiederholung eines Musik-Features anlässich des 90. Geburtstags des Geigers und um 18:05 Uhr steht Ivry Gitlis im Mittelpunkt der Sendung "Klassik-Stars".

Berühmt durch einen Skandal

Während des zweiten Weltkriegs mussten Gitlis und seine Mutter nach London fliehen. Dort arbeitete er zunächst in einer Rüstungsfabrik, bis er als Geiger Konzerte für die Truppenbetreuung geben durfte. 1951, zurück in Paris, nahm er am Long-Thibaud Wettbewerb teil. Er eroberte die Herzen des Publikums, die Jury sprach ihm aber nur den 5. Preis zu: ein Skandal, der Gitlis berühmt machte. 

Die komische Sache ist – ich hasse dieses Wort – meine sogenannte Karriere, weil ich nie wirklich Karriere gemacht habe. Da war keine Absicht und kein Ziel.
Ivry Gitlis

Ein unvergesslicher Ton, ein Geigenspiel, das mit keinem anderen auf der Welt vergleichbar ist. Mutiger als das vieler anderer, schön konnte bei Ivry Gitlis auch ein hässlicher Klang sein. Er scherte sich nicht um die Klangvorstellungen und Erwartungen anderer. Alles, was er erlebte, floss in seine Musik ein. Während ich rede, liebe, schlafe und esse, spiele ich ja auch Geige, sagte er einmal so schön. Sein Spiel war so facettenreich wie seine Persönlichkeit. Kraftvoll, neugierig wie ein Kind, instinktiv, spontan, launisch und sogar erotisch. 

Straßenmusik mit Martha Argerich

Er spielte mit wem er wollte und was er wollte – mit der Pianistin Martha Argerich 1968 auf den Straßen im Pariser Mai und noch viele Jahre danach.  Bei seinem legendären Festival in Vence sprengte er den Rahmen der klassischen Musik und feierte mit Musikern und Publikum bis in die frühen Morgenstunden. Er spielte mit den Rolling Stones und Yoko Ono, mit dem Trompeter Dizzy Gillespie oder dem Geiger Stéphane Grapelli. Das war für ihn Quintessenz des Lebens und Musizierens: die Begegnung von Menschen, deren Seelen verwandt sind.

Mit einer Geige in der Hand kannst du mit jedem musizieren, sofern er dein Herz berührt.
Ivry Gitlis

Spontan und chaotisch

Der israelisch-französische Violinist Ivry Gitlis bei einer Meisterklasse | Bildquelle: BR Ivry Gitlis bei einer Meisterklasse im November 2017 | Bildquelle: BR Noch mit Anfang 90 hat Ivry Gitlis Meisterkurse gegeben. Er ging viel in Konzerte, wusste genau, welcher junge Geiger gerade Karriere macht. Für alle, die mit ihm spielen wollten, stand seine Tür offen. Völlig spontan und chaotisch, das gehörte bei ihm dazu. Allein ihm zuzuhören war eine unglaubliche Bereicherung, erzählen Musiker wie Bratscher Antoine Tamestit oder Geigerin Patricia Kopatchinskaja. Er hat alles in Frage gestellt und durcheinandergebracht. Wer das für sich ordnen konnte, hat jede Begegnung mit ihm als große Inspiration erlebt: "Bitte habt den Mut, zu euch zu stehen und Risiken einzugehen. Im Umgang mit eurem Instrument befreit euch von allen technischen und psychischen Zwängen und kreiert, wenn ihr spielt. Hört auf, eure innere Stimme, die direkt zu eurem Herzen und eurer Seele reicht."

Ein hygienisch klinisch blitzsauberes Spiel ist nicht unbedingt ein Zeichen guter Gesundheit.
Ivry Gitlis

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