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Kommentar: Pro und Contra Muss die Kunst jetzt Ruhe geben?

Die Schließungen kamen nicht überraschend, die Wut ist trotzdem groß. Hygienekonzepte waren sorgfältig erarbeitet worden, und die Frage steht im Raum: Besteht trotzdem die Gefahr einer Covid-Ansteckung im Publikum? Die Meinungen gehen auseinander – auch bei BR-KLASSIK: Kathrin Hasselbeck und Bernhard Neuhoff kommentieren.

Geschlossener Vorhang im Münchner Nationaltheater | Bildquelle: W. Hösl/Montage: BR

Bildquelle: W. Hösl/Montage: BR

Zugabe

Pro und Contra - Muss die Kunst jetzt Ruhe geben?

Spaßbäder, Kunst und Bordelle: Die Politik ignoriert Argumente

ein Kommentar von Berhard Neuhoff

Im März waren die Maßnahmen deutlich härter. Die Folgen waren drastischer, aber eines war damals einfacher: Fast alle waren betroffen. So entstand ein Gemeinschaftsgefühl, das zwar keineswegs alle, aber doch weite Teile der Bevölkerung miteinander verband. Bei den jetzt beschlossenen Maßnahmen ist das anders. Ja, es ist gut, dass die Regierungen handeln. So weitergehen konnte und durfte es nicht. Aber diesmal hat sich die Politik für einen etwas anderen Weg entschieden. Diesmal trifft es nicht so viele Lebensbereiche. Einige, und zwar ausgerechnet die, die beim ersten Lockdown besonders leiden mussten, sind ein zweites Mal ganz besonders hart betroffen: Gastronomie und Veranstaltungsbranche – und damit die Kunst. Andere Lebensbereiche, etwa die Religion, die Schulen oder der Einzelhandel, kommen diesmal relativ glimpflich davon. Das ist gut so und das hat natürlich einen Sinn. Die Bildungschancen junger Menschen etwa sind ein besonders hohes Gut. Und richtig ist auch: Schulen können nur dann offen bleiben, wenn Kontakte in anderen Bereichen verringert werden.

Auch die Kunst hat Verfassungsrang

Sollten deshalb die Künstlerinnen und Künstler Ruhe geben? Nein. Wenn die Politik schon anfängt, nach unterschiedlichen Lebensbereichen zu differenzieren, dann muss sie sich auch aufs Begründen und Erklären einlassen. Die Religionsfreiheit steht in unserer Verfassung. Sie ist "unverletzlich", heißt es im Grundgesetz. Aber die Freiheit der Kunst hat auch Verfassungsrang. Sie kommt gleich im nächsten Artikel. Die Kunst ist also, so wollten es die Väter und Mütter des Grundgesetzes, etwas anderes als bloß "Freizeitgestaltung". Es geht nicht an, dass die Politik sie in die gleiche Schublade mit den Spaßbädern und Bordellen steckt. Bei Gottesdiensten haben sich nachweislich viele hundert Menschen weltweit angesteckt. Trotzdem bleiben sie erlaubt. Unter Theater- und Konzertbesuchern ist bislang kein Ansteckungsfall dokumentiert worden. Trotzdem werden die Säle geschlossen.

Weg des geringsten Widerstands?

Bernhard Neuhoff / BR-KLASSIK | Bildquelle: Lisa Hinder Bildquelle: Lisa Hinder Offenbar hat die Politik hier eher den Weg des geringsten Widerstands gewählt hat als eine wirklich sachgemäße Lösung. Natürlich würde sich der eine oder die andere aufregen, wenn Partys verboten, aber Opern erlaubt wären. Doch man könnte es erklären, es gäbe dafür gute, wissenschaftlich erhärtete Gründe. Nun werden Opern verboten, aber bleiben Gottesdienste erlaubt. Auch dafür gibt es Gründe, es sind aber sicher nicht virologische. Und deshalb haben die Maßnahmen einen Erklärungsnotsand, was die Kultur betrifft. Die Kulturschaffenden haben Recht, wenn sie von der Politik eine Überprüfung fordern. Wenn schon so große Unterschiede gemacht werden, dann müssen sie auch plausibel gemacht werden. Bislang sind die Argumente der Politik viel zu pauschal. Verhältnismäßig sind Grundrechtseingriffe immer nur dann, wenn es nicht auch mildere Mittel gibt, die den gleichen Zweck erfüllen. Die Theater haben gezeigt, dass es sie gibt. Die Politik hat das ignoriert. Das ist nicht in Ordnung. Wenn Künstlerinnen und Künstler darauf hinweisen, dann ist das nicht unsolidarisch, sondern ihr gutes, in der Sache begründetes Recht.

Kämpfen? Ja, aber ums Geld, nicht um die Auftritte

ein Kommentar von Kathrin Hasselbeck

Da ist es wieder: das Gefühl der Ohnmacht. Doch anders als im März fehlt der Schock. Sie war nämlich abzusehen, die Entscheidung, dass Theater, Opernhäuser, Konzertbühnen wieder geschlossen werden. Und noch etwas ist anders, jetzt, im Herbst: Diesmal hatten die Intendanten und Veranstalterinnen, die Verantwortlichen der Kulturbranche sich vorher monatelang ins Zeug gelegt. Wo im März sich staunend und ungläubig die Augen gerieben wurden, schnellen jetzt wütend die Hände in die Höhe: "Was denn noch? Wir haben doch alles gemacht, was man von uns verlangt hat!"

R-Faktoren oder Inzidenzzahlen taugen nicht als Bösewichte

Was für ein furchtbares Gefühl. Das meine ich ganz ernst. Machtlosigkeit ist schrecklich, besonders nach Anstrengungen, die einem Kampf gleichen. Haben Kultur und Gastronomie verloren, Einzelhandel und Schulen gewonnen? Und das auch noch, weil Frau Merkel als Schiedsrichterin mit Trillerpfeife darüber geurteilt hat? Ich finde, wer so denkt, vergisst, wer der wirkliche Gegner ist. Das ist nicht schwer, schließlich kann man das Sars-Cov-2-Virus nicht sehen, ja, nicht mal die Aerosole, die es verbreiten. Und Kurvendiagramme, R-Faktoren oder Inzidenzzahlen taugen doch auch nicht wirklich als Bösewichte. Läuft es also auf so etwas simples wie schwieriges hinaus wie Vertrauen? Vertrauen in die ernsten Mienen der Regierung, wenn sie Zahlen vorträgt und die Hygienekonzepte als irrelevant bezeichnet in einer Pandemiephase, in der Dreiviertel des Infektionsgeschehens nicht nachvollzogen werden können?

Gebot der Stunde: Kontakte vermeiden

Kathrin Hasselbeck | Bildquelle: BR/Bianca Taube Kathrin Hasselbeck | Bildquelle: BR/Bianca Taube Zurück also zu den Betroffenen, zu Veranstalterinnen, Bühnenarbeitern, zu denen, die ab Montag nicht mehr auftreten oder arbeiten dürfen. Sie klagen im Chor, und zwar verschiedenstimmig: Weil ihnen Geld fehlt, weil ihre Existenz bedroht ist. Völlig nachvollziehbar. Aber auch, weil sie die Freiheit der Kunst, die in unserem Grundgesetz steht, in Gefahr sehen. Und: Weil sie spielen wollen, das Publikum, die Musik, die Kunst für ihre Seelengesundheit brauchen. Dabei geht es doch ganz klar um eins: Kontakte vermeiden. Bei der Befragung durch das Gesundheitsamt muss ein Infizierter so wenige Begegnungen wie möglich angeben, damit das Pandemiegeschehen wieder unter Kontrolle gerät. Und egal wie gut das Hygienekonzept ist: Ein Konzertbesuch, ein Abend im Restaurant – all das sind Begegnungen, Abstand hin, Maske her. Im März haben gerade Musikerinnen und Musiker gezeigt, wie kreativ und flexibel sie in der Krise sein können – und damit so vielen Menschen auch Hoffnung gemacht, sie unterhalten! Jetzt ist nicht die Zeit, um für ein Auftrittsrecht wider alle Infektionszahlen zu demonstrieren. Jetzt heißt es: Zuhause bleiben, Kontakte vermeiden, Wohnzimmerkonzerte streamen. Aber auch: Die Regierung bei ihren Versprechen packen, was die Förderungen und das finanzielle Auffangen betrifft. Denn hier, fürchte ich, wird kämpfen nötig sein. Damit wir alle wieder Live-Musik und Theater erleben können. Nach November.

Sendung: "Allegro" am 29. Oktober 2020 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (6)

Kommentieren ist nicht mehr möglich.

Sonntag, 01.November, 15:34 Uhr

Korbinian Bubenzer

Danke Herr Bernhard Neuhoff

Lieber Herr Neuhoff,
ich möchte Ihnen hier einmal danken für diesen und Ihre vielen weiteren Kommentare über die Corona-Situation. Sie sprechen mir und vielen meiner Musikerkollegen mit Ihren so gut und differenziert gewählten Worten aus der Seele.
Solche klug gewählten Worte und Kommentare bringen uns hoffentlich in dieser äußerst komplexen Debatte, in der wir uns als Gesellschaft derzeit befinden weiter.

Sonntag, 01.November, 11:17 Uhr

Dr. Friedrich Straßer

Muss die Kunst jetzt Ruhe geben?

Um es mit der Sprache der Boxer auszudrücken:
Argumentiver K.-o.-Sieg von Herrn Neuhoff über Frau Hasselbeck.
Wer zu den unseligen Folgen des Shutdowns für Kultur, Gastronomie und Gesellschaft noch mehr wissen möchte, dem sei der sehr informative Beitrag "Von Montag an im Winterschlaf" in der FAZ vom 30.10.2020 wärmstens empfohlen.

Sonntag, 01.November, 09:18 Uhr

Dr. Peter Strauß

Kommentar zum Todesstoß für die Kultur

Verehrte Frau Hasselbeck. Bisher waren Sie mir als Moderatorin auf BR Klasik sehr sympathisch. Ihr Kommentar zum Thema Schließen der Konzertsäle und Theater geht aber an der Realität völlig vorbei. Begegnungsverkehr mit Weitergabe des Virus findet im Alltag in den öffentlichen Verkehrsmitteln und auf der Straße statt. Die Hygienekonzepte der Oper und der Konzerthäuser haben wissenschaftlich begleitet und bewiesen zu keinerlei Anstieg der Infektionsrate beigetragen. Wenn ich zwei Stunden mit Abstand, der übrigens problemlos noch reduziert werden könnte, im Opernsessel sitze stecke ich niemanden an. Ich war gestern auf dem Odeonsplatz zum Requiem für die Kultur. Ein beglückendes und gleichzeitig bedrückendes Erlebnis, mit welcher Qualität ein ad hoc zusammengestellter Klangkörper das Werk präsentiert. Kaum einer, der dabei nicht geweint hat! Dann am Abend im Stream die Vögel aus der Staatsoper: die 50 Begnadeten in der Oper waren anscheinend begeistert. Daheim enttäuschend!

Samstag, 31.Oktober, 08:40 Uhr

Klaus

Jetzt heißt es: (..) Wohnzimmerkonzerte streamen

Sicher nicht! Schluss mit Gratiskunst gemütlich geliefert! Den Menschen soll bewusst werden, was fehlt, wenn‘s plötzlich still wird!
Zahlreiche bisher erfolgreiche Musiker und Künstler schulen bereits jetzt um, nach dem Lockdown 2 werden es nochmal deutlich mehr sein, die Reserven der meisten Soloselbstsändigen sind restlos aufgebraucht!

Samstag, 31.Oktober, 08:04 Uhr

Gisela Schmöger

Gegen die Theaterschließungen

Ich bin einer Meinung mit Herrn Neuhoff. Kunst hat denselben Verfassungsrang wie die Religion. Für viele Menschen bedeutet das Eintauchen in die Kunst auch dasselbe wie für andere die Ausübung von Religion, nämlich ein Finden zu sich selbst, die Auseinandersetzung mit dem Leben und das Streben nach Berührung mit einer göttlichen Welt. Diese Bedeutung kann Kunst aus meiner Sicht aber nur entfalten, wenn sie live stattfindet und nicht aus der Konserve in die Wohnzimmer kommt. Bei der Religionsausübung scheint das anerkannt zu sein (man könnte ja auch sagen, dass beten zu Hause mit im Fernsehen übertragenen Gottesdiensten ausreichend sei), warum wird die Kunst anders behandelt? Zumal sich bei Gottesdiensten nachweislich viele Leute angesteckt haben und im Theater nahezu niemand? Meiner eigenen Erfahrung nach kommt man in Theatern wie dem Münchner Nationaltheatern bei einer Besucherzahl von 500 mit kaum jemandem nahe in Kontakt, das Einhalten von Abstand ist problemlos möglich.

Freitag, 30.Oktober, 13:47 Uhr

Michael Friedrich

Kontakte vermeiden

Einspruch, sehr geehrte Frau Hasselbeck: Sie schreiben wiederholt, Kontakte vermeiden sei das Gebot der Stunde, nur, wozu soll dies dienen: doch wohl, um die Infektionszahlen zu senken, DAS muss das Ziel sein! Wenn Sie aber nun gerade dort Kontakte vermeiden, wo zuvor nachweislich und durch Studien belegt gar keine Infektionen übertragen wurden, so läuft diese Maßnahme hier völlig ins Leere. Wenn man wirklich einen Großteil(75%) zwischenmenschlicher Kontakte/Begegnungen verhindern wollte, müsste man das komplette soziale Leben zum Stillstand bringen! Hier aber wird ausschließlich die Kultur durch eine aktionistische Symbolpolitik geopfert, wodurch vielen Menschen der letzte Lichtblick in dieser dunklen Zeit genommen wird!

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