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Kritik – "Krieg und Frieden" in München In der Kampfzone

Riskant und strapaziös – aber lohnend: Vladimir Jurowski dirigiert "Krieg und Frieden" von Sergej Prokofjew an der Bayerischen Staatsoper. Diese Monumentaloper spielt in der propagandistischen Kampfzone. Regisseur Dmitij Tscherniakow macht aus dem Historiendrama eine Parabel auf das Russland der Gegenwart.

Szenenbild Prokofjews "Krieg und Frieden" - Bayerische Staatsoper März 2023 | Bildquelle: © Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper

Bildquelle: © Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper

Vor genau einem Jahr – der Angriffskrieg gegen die Ukraine war noch ganz jung und durfte nach Putins Willen auf keinen Fall Krieg heißen – machte in Russland ein Witz die Runde: Tolstois berühmter Roman braucht einen neuen Titel. Er heißt jetzt "Spezialoperation und Frieden". Der sarkastische Spruch hat es in sich. Denn für die russische Propaganda gehört es zu den Standardoperationen, sich die Geschichte unter den Nagel zu reißen. Gern auch die großen Kunstwerke der Vergangenheit. Schon Stalin, in vielem Putins Vorbild, war ein Großmeister der Geschichtspolitik. Ein Beispiel dafür ist Sergej Prokofjews Mammutoper "Krieg und Frieden" nach Lew Tolstois Mammutroman. Auch dieses nie vollendete Opernkonvolut ist, und das macht das Stück so prekär, ein Stück stalinistische Geschichtspolitik.

Wir gegen die

1945 wollte Stalin, der Anführer im "Großen vaterländischen Krieg", als Sieger gegen Hitler-Deutschland gefeiert werden – gespiegelt in einem historischen Vorbild, dem Sieg Russlands gegen Napoleon 1812, wie ihn Tolstoi in seinem 1600-Seiten-Roman beschreibt.

Russland allein gegen den Westen. Wir gegen die. Denn wir Russen sind eben ganz anders als die angeberhaften Westeuropäer, eine Nation mit einzigartiger Sendung: Schon Tolstois Roman ist keineswegs frei von nationalistischen Tönen. Stalin konnte das sehr gut gebrauchen. Und Prokofjew lieferte willig.

Ideologische Kampfzone

Szenenbild Prokofjews "Krieg und Frieden" - Bayerische Staatsoper März 2023 | Bildquelle: © Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper Szene aus "Krieg und Frieden". | Bildquelle: © Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper Heute erzählt Putins Propaganda eine ähnliche Geschichte. Obwohl diesmal Russland versucht, ein Nachbarland zu unterwerfen, wird der Eroberungskrieg zum Abwehrkampf gegen den Westen umgedeutet. Beschworen wird die Tradition der "Vaterländischen Kriege" gegen Napoleon und Hitler: Wir gegen die. Prokofjews Oper, ohnehin ein Werk mit Schlagseite, steht seit der Zeitenwende mitten in der ideologischen Kampfzone. Als Vladimir Jurowski, Musikchef der Bayerischen Staatsoper, vor Jahren das Stück auf den Spielplan setzte, konnte er das nicht wissen. Was er wusste, war, dass die Premiere am 70. Todestag von Stalin und Sergej Prokofjew stattfinden würde: Beide, Diktator und Komponist, starben am gleichen Tag, dem 5. März 1953. Als der Ukraine-Krieg begann, entschied Jurowski gemeinsam mit dem russischen Regisseur Dmitrij Tscherniakow, das Stück trotzdem zu spielen – aber radikal umzudeuten.

Gefangen in der Geschichte

Und zwar in eine Parabel auf das Russland der Gegenwart, das nicht herausfindet aus den Schatten der Vergangenheit. Diese übermächtige Geschichte symbolisiert der Raum, in dem alles spielt: der prachtvolle Saal im sogenannten Haus der Gewerkschaften in Moskau. Erbaut im 18. Jahrhundert, überlebte er den Brand Moskaus im Krieg gegen Napoleon 1812. Hier ließen Zaren Bälle veranstalten, hier gab Tschaikowsky Konzerte, hier war während des ersten Weltkriegs ein großes Lazarett, hier ließ Stalin Schauprozesse abhalten und Propaganda-Shows veranstalten, hier wurde sein Leichnam öffentlich aufgebahrt, ebenso Lenin, Breschnjew und zuletzt Gorbatschow.

Der Krieg vor dem Krieg

Szenenbild Prokofjews "Krieg und Frieden" - Bayerische Staatsoper März 2023 | Bildquelle: © Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper Bildquelle: © Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper Jetzt liegen hier eng an eng Flüchtlinge. Sind es Ausgebombte? Das wird nie ganz klar, aber offenbar herrscht draußen Krieg. Im ersten Akt will das nicht passen zu der tragischen Liebesgeschichte, die eigentlich vor dem Einmarsch der napoleonischen Truppen spielt. Offenbar will Tscherniakow sagen: Russland war schon lange im Krieg, bevor der aktuelle Konflikt losging. Die Personenregie ist stark, auch wenn die Liebe zwischen Fürst Andrej und der untreuen Natascha in diesem Setting ziemlich in der Luft hängt. Im zweiten Teil, wenn Prokofjew mit klanggewaltigen Massenszenen das Kriegsgeschehen beschreibt, wird die Stoßrichtung klarer. Statt der historischen Schlacht von Borodino zeigt Tscherniakow, wie Russen der Gegenwart sich gegenseitig ein militärisch-patriotisches Schauspiel über diese Schlacht vorführen. Die Geschichte wird zum propagandistischen Spektakel, in dem Napoleon auftritt – und zur Hebung der gegenwärtigen Kampfmoral lächerlich gemacht wird.

Jubel für den Regisseur

Dann kippt alles in einen Hexensabbat der Aggression: Choreographisch eindrucksvoll schildert Tscherniakow eine entfesselte Gesellschaft, die sich selbst die Hölle heiß macht. Was Tolstoi und Prokofjew als Gewalt eines äußeren Feindes darstellen, zeigt Tscherniakow als Aggression der russischen Gesellschaft gegen sich selbst. Es gibt keinen Feind da draußen, ihr selbst seid Euch Feind, von Euch geht die Gewalt aus – das schleudert diese Inszenierung eines russischen Regisseurs überdeutlich seinem Heimatland entgegen. Am Schluss wird Feldherr Kutusow, dargestellt als brutaler Warlord, aufgebahrt wie ein sowjetischer Staatschef: Auch diese Sowjetnostalgie hat traurige Aktualität im gegenwärtigen Russland. In all der düsteren Wucht gibt es immer wieder berührende Momente – etwa, wenn das Liebespaar aus dem ersten Akt sich noch einmal wiederbegegnet und Natascha den tödlich verwundeten Andrej zu den Klängen eines nostalgischen Walzers zum Tanzen hochziehen möchte, der aber immer wieder in sich zusammensackt. Kein einziges Buh, stattdessen einhelliger Jubel für den Regisseur – das hat Dmitrij Tscherniakow vermutlich selten so erlebt.

Das gigantische Räderwerk greift ineinander

Ein Mann mittleren Alters gib ein TV-Interview | Bildquelle: BR  Dirigent Vladimir Jurowski. | Bildquelle: BR Noch mehr verdient hat den Jubel Dirigent Vladimir Jurowski. Im ersten Akt widerlegt er brillant das Vorurteil, "Krieg und Frieden" sei Prokofjews schlechteste Oper: Diese Musik ist keineswegs brachial, sondern über weite Strecken lyrisch elegant, hoch inspiriert, enorm farbig. Jurowski vollbringt ein echtes Wunder – das gigantische Räderwerk greift präzise ineinander, die Sänger kommen gut durch, die Klangmassen sind gegliedert, haben nicht nur Wucht, sondern auch Ziel – und gehen dabei tief unter die Haut. Gesungen wird exzellent. So eine Riesenbesetzung auf dem Niveau muss man erstmal zusammen kriegen. Andrei Zhilikhovsky als Fürst Andrej hat einen voluminösen, warmen Bariton. Arsen Soghomonyan geht als Graf Pierre eindrucksvoll auf Sinnsuche. Und Olga Kulchynska spielt und singt die Natascha so lebendig, dass – wie selten gelingt das! – alle Opernklischees vergessen sind. Eine Kriegsoper in Zeiten der Spezialoperation – ein riskanter und strapaziöser Kraftakt, der sich unbedingt lohnt.

Klicktipp

Ein ausführliches Dossier zum Thema "500 Jahre Bayerisches Staatsorchester" finden Sie hier.

Sendung: "Allegro" am 6. März ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (5)

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Samstag, 18.März, 09:47 Uhr

Thomas

Die Inszenierung ist...

....unstimmig und banal. Man kann so ein historisches Stück nicht in die Gegenwart zerren. Ich habe das Stück einmal im Bolschoi gesehen, inszeniert auf einer Drehbühne mit verschiedenen Bildern. Das ist mir viele Jahre in Erinnerung geblieben. Hier nur ein Einheitsbühnenbild mit Matratzenlager....

Dienstag, 07.März, 20:52 Uhr

Nina

Krieg und Frieden

Welche eine grandiose Inszenierung! Und wirklich geht es um die Gewalt in der Gesellschaft, hier der russischen, die in einem solchen Angriffskrieg ein Schlüssel ist und die natürlich auch schon Tolstoi beschäftigt hat. Diese patriarchialsiche Gesellschaft, in der es wie in Russland Privatsache ist, wenn Männer ihre Frauen schlagen! Dieser Krieg ist aber nicht allein Putins Privatsache, sondern eine Frage der Gesellschaft. Das hat der Regisseur sehr gut und sehr selbstkritisch umgesetzt. Dazu das so stimmige Dirigat. Man kann nur danken für eine solche gegenwartsbezogene Kunst, die eben Politik in ihre Betrachtung einbezieht. Ganz anders als die kürzlich in Hamburg auch von einer russischen Regisseurin aufgeführte Lady Mcbeth von Schostakowitsch, die im Vergleich zu Krieg und Frieden reine Folklore ist. Großer Beifall!

Montag, 06.März, 18:57 Uhr

Alexandre

Theodor

Da ist doch Hauptmetaphor: Kolonnen-Halle ist Rußland von Zaren, nicht von russischen Volk.

Montag, 06.März, 15:58 Uhr

Theodor

Inszenierung für Exilrussen

Ich kann die Begeisterung für die Inszenierung nicht teilen. Warum ein Einheitsbühnenbild? Aus Geldmangel wohl kaum, denn für das Replikat des Hauses der Gesellschaft wurde viel Geld verpulvert. Wenn der Regisseur betont wie symbolträchtig dieses Haus für jeden Russen sei, dann sollte man ihm auch sagen, dass seine Produktion in München und Barcelona zu sehen sein wird, und von den dortigen Steuerzahlern finanziert wird. Für diese wird das Symbol unverständlich sein. Oder ist die ganze Inszenierung nur für Exilrussen gedacht?

Abgesehen vom prunkvollen Replikat ist die übliche Hässlichkeit des Regietheaters zu sehen, man ist eher in Gorkis "Nachtasyl" als in Tolstois Leben der russischen Aristokratie. Warum? Ich finde auch das permanente Gewimmel von über hundert Darstellern auf der Bühne auf die Dauer entnervend. All das verhindert, sich überhaupt auf das Regiekonzept einlassen zu wollen. Bisher konnte ich mich nur zu einem Durchzappen des Videos durchringen.

Montag, 06.März, 09:36 Uhr

Wolfgang Ludwig-Mayerhofer

Wer hätte das gedacht ...

Nach dem in den Augen vieler (auch den meinen) sehr missratenen Freischütz nun eine rundum überzeugende Inszenierung -- Herr Tscherniakow kann's also doch! Ich bin mir zwar nicht sicher, ob man das Regiekonzept nur so deuten kann, wie Herr Neuhoff es tut, aber jedenfalls ist es in sich sehr stimmig. Sehr stimmig ist auch die Besetzung, diesmal sind die Figuren aber nicht so klischeehaft wie beim Freischütz, vielmehr wirken sie 'echt'. Die Besetzung ist auch durchgängig sehr rollenadäquat. Pierre Besuchow muss man sich zwar etwas jünger und etwas korpulenter vorstellen, trotzdem gelingt es Arsen Soghomonyan ausgezeichnet, den etwas instabilen, aber im Grunde seines Herzen guten Grafen Pierre zu verkörpern. Und Olga Kulchynska kann die Freude des jungen Mädchens ebenso berührend verkörpern wie die abgrundtiefe Verzweiflung und Scham in dem Moment, in dem sie versteht, dass sie ihren Andrej für den Halunken Kuragin weggeworfen hat. Für mich: A star is born!

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