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Kritik – "Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr" Eröffnung der Münchener Biennale

Das Eröffnungsstück des Münchner Festivals für neues Musiktheater hat Bernhard Gander zum Libretto des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan komponiert. "Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr" handelt von Flucht, es ist brennend aktuell und es ist tatsächlich ein Theaterstück, dessen Narrativ mit Hilfe von Musik erzählt wird – auch wenn diese ziemlich ungewöhnlich klingt.

Michael Atzinger, Moderation | Bildquelle: © BR/Markus Konvalin

Bildquelle: © BR/Markus Konvalin

Kritik

Münchener Biennale – "Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr"

Es dröhnt leise als das Publikum die Muffathalle betritt. Ein Grundrauschen der Unbehaglichkeit. Das passt zum Setting: Links ein Sektempfang, rechts ein Autowrack, dazwischen ein Berg Schwimmwesten und das Musikensemble. Dahinter wird über die gesamte Breitseite der Halle eine Grenzmauer projiziert. Es sind die tragischen Insignien flüchtender Menschen und eines sich immer mehr abriegelnden Europa. Durch den Krieg in der Ukraine bekommt die explizit am Grenzübergang eines osteuropäischen Landes verortete Szenerie noch einmal mehr Brisanz. Jedoch sind diese "Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr" als überzeitliches Menschheitsproblem angelegt. Vertreibung, Flucht, Ablehnung und Ausgrenzung sind so schreckliche wie urmenschliche Themen.

Heavy Metal statt Kammermusik

Münchener Biennale - "Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr" | Bildquelle: Münchener Biennale/Smailovic Szene aus "Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr" bei der Münchener Biennale 2022 | Bildquelle: Münchener Biennale/Smailovic Im Kontrast dazu steht die Musik, die Bernhard Gander hier komponiert hat. Ein Streichersatz für Geige und Kontrabass, erweitert um Klavier, Schlagzeug und Bassklarinette. Die Streicher sind durchweg verstärkt und verzerrt, spielen punktierte Rhythmen, tief, auf einem Ton bleibend, harsch wie ein Beschuss. Darauf gibt es synkopierte Staccato-Chöre, die Worte zerhackt, die Sprache verhindert. Die Beleuchtung ist schummrig, die Musik, die mehr nach Heavy Metal als nach Kammermusik klingt, ist fordernd. Das Leid, aber auch die Wut über die schreiende Ungerechtigkeit der Wohlstandsverteilung auf dieser Welt wird in beinahe unerträglich werdenden Exerzitien wiederholt.

Resignation und ein Hoffnungsschimmer mit Beethoven

Für die Sängerinnen und Sänger ist das eine Herausforderung. Der Bass Andrew Robert Munn und der Bariton Carl Rumstadt haben keine Phrasierung als Orientierung. Sie haben kaum verschiedene Töne. Die Sätze darauf werden in immer wieder minimal verschobenen Synkopen zerhäckselt. Sie meistern das grandios. Sie ballern all die Ungerechtigkeiten heraus. Stillstehend, hier entwickelt sich nichts, Resignation, es stampft nur immer gleichbleibend weiter.

Die Arien, die Sopranistin Antonia Ahyoung Kim darüber setzt, dürfen hingegen fließen. Sie singt von den Träumen, sie zeigt die Perspektiven derer , die ein Heim, ein Land, ein Zuhause haben. Das wird erschütternd überhöht, als unter all dem Noise plötzlich Beethovens Mondscheinsonate erklingt.

Die Regie? Nicht ganz so stark wie die Musik

Münchener Biennale - "Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr" | Bildquelle: Münchener Biennale/Smailovic Szene aus "Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr" bei der Münchener Biennale 2022 | Bildquelle: Münchener Biennale/Smailovic Sowieso scheut sich Bernhard Gander in seiner Partitur nicht vor Eindeutigkeiten. Immer wieder erklingen Harmonien, Akkorde. Gander setzt sich nicht mehr über Atonalität von der Vergangenheit ab, sondern über Klang. Die Verzerrungen, die sämtliches Vibrato, sämtlichen Streicherschmelz, ja Ausdruck niedermähen, funktionieren hier als eigenständige – wenn auch der Popmusik entnommene – musikalische Sprache. Dahinter darf es harmonische oder gar melodiöse Rückbezüge in all ihrer narrativen Kraft geben.

Chor und Solo-Stellen wechseln sich ab. Die Sängerinnen und Sänger nehmen verschiedene Rollen ein, Geflüchtete und Geschäftemacher, Grenzpolizisten und Mütter. Die Perspektiven wechseln, Zeiten und Orte verschwimmen, setzen sich musikalisch und szenisch nicht voneinander ab. Es bleibt seltsam statisch. Die Unerbittlichkeit der Musik löst sich in der Regie nicht ein. Doch in solchen Klangexperimenten und auch in der so drängenden Verortung der Kunst im aktuellen Zeitgeschehen liegt eine ungeheure Kraft.

"Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr" bei der Münchener Biennale

Premiere: 7. Mai 2022
Weitere Vorstellungen gibt es am 8., 9. und 10. Mai.
Die Münchener Biennale findet mit weiteren Produktionen noch bis zum 19. Mai statt. Weitere Infos und Tickets finden Sie auf der Homepage des Festivals.

Sendung: "Allegro" am 9. Mai 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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