BR-KLASSIK

Inhalt

Luigi Nono zum 100. Geburtstag Vertonter Widerstand, klingende Hoffnung

Luigi Nonos Musik sollte Veränderungen anstoßen, zahlreichen Kompositionen hat er politische Dimensionen eingeschrieben: Er sprach mit Fabrikarbeitern, vertonte Briefe europäischer Kriegsgefangener und engagierte sich für soziale Gerechtigkeit, Toleranz und Frieden. Seine Musik ist vor allem kontrastreich, bewegt sich zwischen lautstarkem und unmissverständlichem Appell und Klangaktionen an der Grenze des überhaupt Hörbaren.

Der Komponist Luigi Nono | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Bildquelle: picture-alliance/dpa

Das Werk Il canto sospeso von Luigi Nono stammt aus dem Jahr 1956 – "der unterbrochene Gesang“. Eine Komposition für Sopran, Alt, Tenor, Chor und Orchester. Ein opulentes Werk angesichts seiner Besetzung, seiner klanglichen Eigenheit sowie seiner Bedeutungsschwere. Die Musik ist untergliedert in neun Teile, ein jeder basierend auf einer eigenen Textvorlage. Es sind letzte Briefe zum Tode Verurteilter aus dem europäischen Widerstand, Berichte junger Frauen und Männer, auch Kinder, die sich dem Faschismus widersetzt haben und in Gefangenschaft geraten sind.

"Sofia, Zentralgefängnis 22. Juli 1942: Liebe Mama, lieber Bruder, liebe Schwester. Ich sterbe für eine Welt, die mit so starkem Licht solche Schönheit strahlen wird, dass mein eigenes Opfer nichts ist. […] Tröstet euch in Gedanken, dass unsere Idee siegen werden. Anton."

Klare politische Botschaft

Zeilen, die berühren und betreffen, die ein so unmittelbares historisches Zeugnis sind für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Diese Texte zu vertonen, war eine unmissverständlich adressierte Botschaft eines politisch engagierten Komponisten, musikalisch betrachtet sind die Worte in ihrem gesungenen Vortrag aber auch phonetisches Material, das mit der Instrumentalmusik verschmilzt.

Herkunft – Die Anfänge: Maderna und Scherchen

Bruno Maderna | Bildquelle: picture-alliance/dpa Bruno Maderna | Bildquelle: picture-alliance/dpa Luigi Nono wurde am 29. Januar 1924 in eine venezianische, kulturnahe Familie hineingeboren, benannt nach dem Großvater Luigi, seinerseits bedeutender Maler. Mit dem Klavierspiel nahm die Musikausbildung den Anfang, als 17-jähriger Schüler begann der Kompositionsunterricht bei Gian Francesco Malipiero. Noch prägender für Nonos künstlerischen Weg sollten jedoch zwei andere Männer sein: Ab 1946 – da hatte Nono gerade ein Studium der Rechtswissenschaften in Padua abgeschlossen – traf er auf den Komponisten und Dirigenten Bruno Maderna. Im Zuge des privaten Studiums bei Maderna entstand die Bekanntschaft zu Hermann Scherchen, einer damals treibenden Kraft für die zeitgenössische Musik und einem großen Unterstützer der jungen Nachkriegsavantgarde.

Nono und Maderna begleiteten Scherchen auf Konzertreisen, dieser brachte ihnen die aktuelle Musik des deutschsprachigen Raums näher, insbesondere die Zwölftonmusik, die Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern als "Zweite Wiener Schule“ praktiziert hatten.

Und wenn wir heute etwas sind, Bruno und ich, dann sind wir es als Ihre Kinder
Luigi Nono an Hermann Scherchen, Venedig, 14. Dezember 1953.

Über Darmstadt ins Bewusstsein

Scherchen war es auch, der Nono 1950 den Weg nach Darmstadt bereitete, wo sich kurz zuvor die Ferienkurse für Neue Musik als intellektuelle und offene Austauschplattform für die internationalen Progressiven etabliert hatten. Mit Blick auf diese personellen Zusammenhänge war es nicht verwunderlich, dass Nonos Erstlingsstück in Darmstadt die Kanonischen Variationen über eine Reihe von Schönberg waren, durch Scherchen zur Uraufführung gebracht. In den darauffolgenden zehn Jahren wurden noch sechs weitere Werke Nonos bei den Darmstädter Ferienkursen präsentiert, bald dozierte er dort auch.

Nono und sein privater Bezug zu Schönberg

Nuria Schönberg-Nono | Bildquelle: picture-alliance/dpa Nuria Schönberg-Nono | Bildquelle: picture-alliance/dpa Im Jahr 1954 ereignete sich für Luigi Nono eine weitere Begegnung von großer Tragweite, diesmal den privaten und familiären Bereich betreffend: In Hamburg lernte er Nuria Schönberg, die Tochter Arnold Schönbergs, kennen. Ein Jahr später folgte die Hochzeit. "Ich liebe Dich - Mit dir ist Ruhe - Freude bist Du“: Mit diesen selbst verfassten Worten besiegelte Nono jene Liebe in – nicht gerade bescheidener – musikalischer Form: Sein Liebeslied ist ein ins Werk gesetztes Liebesbekenntnis für gemischten Chor und Instrumentalensemble, das in seiner Gestalt in der Tradition geistlicher Musik steht, so überhöht und tonmalerisch werden die Worte vorgetragen. Nicht von ungefähr: Der Komponist hatte in seinen frühen Studien die Alte Musik bestens kennengelernt. Bemerkenswert ist, dass Nono im Liebeslied dem irrationalsten aller Gefühle Ausdruck verlieh, während er zu jener Zeit bereits prominenter Vertreter des Serialismus gewesen ist, einer Idee also, Musik aus einem rationalen und parametrischen Reihendenken heraus zu entwickeln, um die Musik bewusst frei von Ideologie und manipulativen Gefühlen zu halten.

Mag Luigi Nonos Liebeslied ein "liebenswert einfaches und unproblematisches kleines Stück“ gewesen sein, so jedenfalls die Einschätzung eines Kritikers der Londoner Uraufführung, so besaß Il canto sospeso, zur selben Zeit entstanden, eine ganz andere Dringlichkeit. Nono schrieb selbst: "Die Botschaft jener Briefe, der zum Tode verurteilten Menschen ist in mein Herz eingegraben wie in die Herzen all jener, die diese Briefe verstehen als Zeugnis von Liebe, bewusster Entscheidung und Verantwortung gegenüber dem Leben und als Vorbild einer Opferbereitschaft und des Widerstandes gegen den Nazismus, dieses Monstrum des Irrationalismus, welches die Zerstörung der Vernunft versuchte."

Schlüsselwerk der Moderne: Intolleranza

Der Komponist Luigi Nono | Bildquelle: picture-alliance/dpa Luigi Nono | Bildquelle: picture-alliance/dpa Zu diesem Zeitpunkt war Nono bereits Mitglied der Italienischen Kommunistischen Partei. Für den politisch aktiven Komponisten gehörte es zum Selbstverständnis, dass Musik sich nicht im Elfenbeinturm, in einer selbstreferenziellen Blase einer Kulturgesellschaft, ereignete, sondern einen Wirklichkeitsbezug und bestenfalls auch eine politische Sprengkraft aufwies. Mit Intolleranza 1960 verfasste Nono sein erstes musiktheatrales Bühnenwerk, uraufgeführt im Rahmen der Biennale in Venedig unter der Leitung von Bruno Maderna. Die Thematik von Intolleranza 1960, das mit der Jahreszahl im Titel schon unmissverständlich macht, dass das Handlungsfeld die aktuelle Wirklichkeit ist, beschrieb Nono selbst als "das Erwachen des menschlichen Bewusstseins eines Mannes, der sich – als ausländischer Bergarbeiter – gegen den Zwang der Bedürfnisse erhebt und einen Sinn, eine ‚menschliche‘ Grundlage des Lebens sucht."

Komposition in und über Arbeiterfabrik in Genua

Wenige Jahre später fiel dem Komponisten ein Buch in die Hände, in dem über die prekären Arbeits- und Lebenszustände italienischer Fabrikarbeiter berichtet wurde. 'Dazu muss ein neues Stück entstehen!' war Nonos erster Reflex, und so kam es auch: mit La fabbrica illuminata für Stimme und Tonband. Die Fabrik, die Luigi Nono hier beleuchtete, indem er sie konkret hörbar machte, ist ein Stahlproduktionswerk in Genua. Dort verbrachte der Komponist drei Tage. Dabei zeichnete er nicht nur charakteristische und lärmende Klänge auf, denen die Fabrikarbeiter Tag für Tag ausgesetzt waren, sondern kam auch ins Gespräch über den mitunter körperlich belastenden Arbeitsalltag und die Auswirkungen auf das Leben. Dieses dokumentarische Material wurde mit elektronischen Klängen und der Live-Stimme in Zusammenhang gebracht. Dabei wurden die konkreten Fabrik-Aufzeichnungen so transformiert und in das musikalische Gesamtgefüge eingearbeitet, dass beim Hören bisweilen intransparent bleibt, wo das eine Material aufhört und das andere beginnt.

Einziges Streichquartett – ein Meilenstein: Fragmente - Stille, an Diotima

Als epochemachendes Werk wird bis heute das erste und einzige Streichquartett gefeiert: Fragmente – Stille, an Diotima. Aus der Taufe gehoben wurde das rund 45-minütige Stück 1980 vom renommierten LaSalle Quartet, dem Widmungsträger dieser Musik, deren Klangereignisse aus der Pause heraus und in die nächste Pause hinein verklingen. Nonos Streichquartett wird in der Nono-Rezeption fast einhellig als Wendepunkt in seinem kompositorischen Schaffen identifiziert. Es gäbe den Nono vor und den Nono nach dem Streichquartett, ist eine gängige systematische Kategorisierung in der Fachliteratur. Gemeint ist damit unter anderem, dass dem Streichquartett keine explizite politische Dimension eingeschrieben wurde wie noch zahlreichen Kompositionen zuvor, die in der Öffentlichkeit manches Mal mehr als politische Aktion oder Provokation denn als musikalisches Werk rezipiert worden waren. In Fragmente – Stille, an Diotima wendete sich Nono nun einer Innerlichkeit zu.

... wie schweigende Gesänge aus anderen Räumen, aus anderen Himmeln
Luigi Nonos Anweisung zum Streichquartett

Luigi Nono - Komponist | Bildquelle: picture-alliance/dpa Luigi Nono | Bildquelle: picture-alliance/dpa Kein lautstarker Protest, sondern eine rein instrumentale Kammermusik an der Schwelle des überhaupt Hörbaren. Es sind die Fermaten oder lang gehaltenen Einzeltöne, denen hier eine gedankliche Größe zukommt und die die Wahrnehmung auf Feinheiten lenken. Die insgesamt 52 Fragmente beziehen sich auf Friedrich Hölderlins Diotima-Gestalt, die Partitur ist durchzogen von Sentenzen, die aber nicht als vorzutragendes Libretto fungieren. Stattdessen verlangt Nono von den Aufführenden: "Mögen sie singen nach ihrem Selbstverständnis, nach dem Selbstverständnis von Klängen, die auf die zartesten Töne des inneren Lebens hinstreben, wie schweigende Gesänge aus anderen Räumen, aus anderen Himmeln."

Klang und Raum: Prometeo

Der Markusdom in Venedig, Luigi Nonos lebenslanger Heimat, ist als der Ort in der Musikgeschichte verankert, an dem mit der venezianischen Mehrchörigkeit Mitte des 16. Jahrhunderts eine sehr frühe Konzeption einer Raummusik praktiziert wurde. Der Raum als klang- und formstiftender Parameter wurde im 20. Jahrhundert vielfältig erprobt und systematisiert, mal durch räumliche Dispositionen, die eine Verstreuung der Musikerinnen und Musiker im Aufführungsraum vorsahen, mal durch mehrkanalige elektroakustische Versuchsanordnungen. Die Verräumlichung der Klänge wurde irgendwann auch für Luigi Nono zum zentralen Gestaltungsaspekt und äußerte sich imposant in seiner 1984 entstandenen "Tragödie des Hörens": dem Musiktheater Prometeo für Vokalisten, Sprecher, Chor und vier im Raum verteilte Orchestergruppen, die einen zweiten Dirigenten notwendig machten.

Dem lag das Libretto von Massimo Cacciari zugrunde, einer Zusammenstellung verschiedener Texte über den Prometheus-Mythos. Für die klangliche Gestalt der Musik war Nonos mehrjährige Arbeit im Experimentalstudio des Südwestrundfunks in Freiburg wegbereitend: Mit live-elektronischen Mitteln wurden die Stimmen transformiert und der raumgreifende Klang umhüllte das Publikum. So handelt es sich bei Prometeo um eine der komplexesten Raumkompositionen des 20. Jahrhunderts. Die dramaturgische Konzeption gleicht dem Durchlaufen mehrerer Klanginseln, wobei es um das Hören klanglicher Nuancen und kleinster Veränderungen geht, die sich im Moment des Übergangs von einer zur nächsten dieser Inseln vollziehen. Ascolta! Hör mal zu! – hätte Luigi Nono gesagt.

Sendung: Horizonte am 30.01.2024 ab 22:05 Uhr

Kommentare (0)

Kommentieren ist nicht mehr möglich.
Zu diesem Inhalt gibt es noch keine Kommentare.

Mehr zum Thema

    AV-Player