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Musik in Notre-Dame Die Architektur der Töne

Notre-Dame ist nicht nur ein Bauwerk, sondern auch ein Klangraum. Die historische Cavaillé-Coll-Orgel hat das Feuer wohl heil überstanden. Musikgeschichtlich steht die Kathedrale für eine bahnbrechende Epoche.

Orgelpfeifen der Notre-Dame Kathedrale in Paris | Bildquelle: KlickKlack

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8000 Pfeifen - die Orgel von Notre-Dame

"Gotische Musik"? Diesen Begriff gibt es nicht. Jedenfalls hat er sich in der Musikgeschichte nicht durchgesetzt. Stattdessen steht ein einzelnes Bauwerk für eine ganze musikalische Epoche: die Kathedrale Notre-Dame im Herzen von Paris. In einem zeitlich recht engen Fenster um 1200 wird die Musik an der Pariser Kathedrale zum Labor für die Zukunft der europäischen Musik. Notre-Dame war zu dieser Zeit musikalischer Dreh- und Angelpunkt. Hier wurde die Grundlage für eine bahnbrechende Weiterentwicklung gelegt: die mehrstimmige Musik. Als Bauwerk kann man Notre-Dame auch als ein Spiegelbild der Musik sehen, die damals in diesem Kirchenraum erstmals erklang.

Wie die Ziegel auf dem Dach

Anfang des Conductus Salvatoris hodie -  mehrstimmige geistliche Musik aus dem frühen 12. Jahrhundert | Bildquelle: wikimedia/Herzog August Bibliothek Bildquelle: wikimedia/Herzog August Bibliothek Das wichtigste Merkmal der Musik aus der Zeit zwischen 1160 und 1250 ist die Notation. Erstmals in der abendländischen Musikgeschichte war es möglich, rhythmische Verläufe exakt in Noten festzuhalten. Und das war die entscheidende Voraussetzung dafür, dass ein wirklich mehrstimmiger Gesang entstehen konnte. Nun konnten die Komponisten verschiedene Stimmen zueinander in Beziehung setzen. Jede Stimme sollte für sich als Linie einen Sinn ergeben – und gleichzeitig einen harmonischen Zusammenklang mit den anderen Stimmen. Erreicht wurde diese neue Architektur der Töne durch die Anordnung von kurzen und langen Notenwerten in wiederkehrenden rhythmischen Mustern. Diese wurden übereinander gelegt wie "die Ziegel auf dem Dach", wie es in einem zeitgenössischen Traktat heißt. Das Bild wirkt stimmig: Wie das Bauwerk selbst – in seinem ursprünglichen Zustand – besteht diese Musik aus Querverbindungen.

Die Kathedral-Schule von Notre-Dame war eine der ganz frühen Universitäten. Intellektuelle und Kleriker haben dort eine Musik geschaffen, bei der man den Rhythmus nach sechs definierten Modi aufschreiben konnte.
Hartmut Schick, Inhaber des Lehrstuhls für Musikwissenschaft an der LMU

Mehrstimmige Notengebäude

Überliefert ist uns die Musik der Notre-Dame-Zeit dank den Aufzeichnungen von Anonymus IV, einem englischen Schreiber, der Ende des 13. Jahrhunderts über die Pariser Kathedralkunst berichtete. Er nennt die Meister Leonin und Perotin als die Schöpfer drei- und vierstimmiger liturgischer Musik. Es sind die ersten Komponistennamen der abendländischen Musik, die uns überliefert sind. Erstmals treten einzelne Individuen als Schöpfer aus der Anonymität der Überlieferung hervor. Besonders an hohen Festen wie Mariae Himmelfahrt wurden solche Kompositionen aufgeführt, um die Musik dem feierlichen Anlass entsprechend zu gestalten. Sie ist Kathedralkunst im besten Sinne und wurde speziell für diesen Kirchenraum geschaffen.

Nach dem Brand: Die Orgel ist heil geblieben

Bedroht waren diese unersetzlichen Werke, die sich mit dem Namen Notre-Dame verbinden, durch das Feuer glücklicherweise nicht. Anders stand es mit der imposanten Orgel. Auch diese hat das verheerende Feuer offenbar überstanden. Die Cavaillé-Coll-Orgel mit ihren geschätzt über 8.000 Pfeifen, eine der berühmtesten und größten der Welt, sei noch intakt, teilte der stellvertretende Bürgermeister Emmanuel Grégoire im Sender BFMTV mit. Es gebe eine "enorme Erleichterung" darüber, dass historische Kulturgüter wie etwa auch die als Dornenkrone Jesu Christi bekannte Reliquie gerettet worden seien. Die ältesten Teile des Instruments stammen aus den 1730er-Jahren und gehen zurück auf den Orgelbauer François Thierry. Seither wurde die Orgel immer wieder umgebaut und erweitert.

Sendung: "Leporello" am 16. April 2019 ab 16.05 auf BR-KLASSIK

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