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Kritik - "Hair" in München Hippie-Gottesdienst zum Mittanzen

Am Donnerstagabend hatte in der Münchner Reithalle eine Neuproduktion des Rockmusicals "Hair" Premiere. Die Neuinszenierung hat für das Gärtnerplatztheater Gil Mehmert übernommen. Peter Jungblut hat das Hippie-Happening miterlebt.

Szenenbilder Hair Musical am Gärtnerplatztheater | Bildquelle: Christian POGO Zach

Bildquelle: Christian POGO Zach

Wir leben ja in einer Zeit, in der sich die Leute über eine halbe Stunde Zugverspätung aufregen, die Grenzen dicht machen wollen und den wesentlichen Teil ihrer Freizeit mit Preisvergleichen im Internet verbringen. Kurz und gut: Aggression, Stress und Konsum dominieren die Welt, so gesehen sind die Hippies natürlich gescheitert. Andererseits haben sie uns die freie Liebe beschert und von der Bügelfalte erlöst, was beides nicht zu unterschätzen ist.

Es fliessen Tränen

Gut, lange Bärte sind heute mehr gefragt als lange Haare, aber die Sehnsucht nach der Energie, der Zuversicht, der Ekstase der sechziger Jahre, die ist offenbar geblieben. Jedenfalls war die "Hair"-Premiere gestern Abend in der Münchener Reithalle ein triumphaler Erfolg. Schon zur Pause versprachen sich die begeisterten Zuschauer gegenseitig in die Hand, unbedingt wiederzukommen. Am Ende tanzte das Publikum auch ohne Musicaldarsteller immer weiter, es flossen Tränen, es wurde stehend applaudiert.

Rebellische Lebensfreude

Nicht von ungefähr war der kanadische Komponist Galt MacDermot zunächst Kirchenmusiker, bevor er 1967 "Hair" vertonte: Es ist ein wahrer "Hippie"-Gottesdienst, zum Mitklatschen, Mitsingen, Mitwippen, Mitglauben. Das Problem daran: Das alles kann furchtbar museal wirken, immerhin liegt die Ära fünfzig Jahre zurück. Umso mehr ist die Regie von Gil Mehmert zu bewundern, der es wirklich schaffte, dem betagten und oft gespielten Erfolgsstück seinen ursprünglichen Elan, seine aufrührerische Kraft und rebellische Lebensfreude zurückzugeben.

Andy Warhol und indische Gurus

Mehmert hatte mit seinem Team eine neue Fassung erstellt, denn "Hair" war auf der Bühne zunächst ein Stück ganz ohne Dialoge, also eher ein ausgelassenes Love & Peace-Fest. Erst im Hollywood-Film von 1979 wurde das Ganze um eine tragische Handlung ergänzt: Der Soldat Claude muss in den Vietnamkrieg. Im Film opfert sich ein Hippie, der ersatzweise für ihn in den Krieg zieht. So melodramatisch ist die Münchener Fassung nicht, hier kommt Claude selbst zu Tode. Regisseur Mehmert und seine Ausstatter Jens Kilian und Dagmar Morell finden für ihre "Hair"-Interpretation großartige, mitreißende Bilder: In der eigentlich schäbigen und etwas abgelegenen Münchener Reithalle entfaltet sich eine opulente Sechziger-Jahre-Revue. Andy Warhol, Liz Taylor und Jimi Hendrix lassen sich ebenso blicken wie indische Gurus, der Ku-Klux-Klan und die nackten Hintern der Kommune 1.

Gut ausgeleuchtete Nacktszene

Im Oktober 1968, bei der skandalumwitterten Erstaufführung in München, schritten die Behörden ein wegen einer Nacktszene von zwei Sekunden Dauer. Die gestrige war gut ausgeleuchtet und nahm wesentlich mehr Zeit in Anspruch, zumindest das spricht für den Fortschritt. Die Cannabis-Pflanzen wuchsen beeindruckend schnell und das Pferd, das durch diese Plantage galoppierte, war zwar nicht echt, reichte aber für eine nachhaltige Halluzination.

Ein Hoch auf die Hippies

Die Bühnentechnik leistete ganze Arbeit, vor allem das Lichtdesign. Die Tonanlage dagegen blieb durchgängig etwas scheppernd. Die Hymne "Let the sunshine in" wurde teilweise durchs Megaphon geplärrt, wie auf damaligen Demos üblich: Ein plausibler Regieeinfall, der das Musical endlich wieder als Proteststück kenntlich machte. Die Darsteller waren durchweg absolut glaubwürdig, voller Energie und von geradezu messianischer Lebensfreude beseelt, allen voran Dominik Hees als Hippie-Chef Berger und David Jakobs als angehender Soldat Claude. Die Band unter Leitung von Jeff Frohner thronte auf einem Podium, zeitweise von einer US-Flagge verdeckt. Statt "Hair", wie sonst oft zu hören, als Retro-Musical runterzuspielen, wagten die Musiker kecke Arrangements und eine zeitgemäße Interpretation. Ein Hoch auf die Hippies und auf diese phänomenale Wiederbelebung von "Hair"!

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