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Kritik – "Der Barbier von Sevilla" in München Von der Liebe aufgestachelt

Am Münchener Gärtnerplatztheater gedeihen bei dieser Inszenierung der Rossini-Oper "Der Barbier von Sevilla" vor allem Kakteen, Schwebfliegen und Schlitzohren. In der Hitze der Nacht und der Leidenschaften entledigen sich die meisten der Moral, was vergnüglich anzusehen ist – meint zumindest BR-KLASSIK-Autor Peter Jungblut, der bei der Premiere am 8. Juli anwesend war.

Der Barbier von Sevilla am Münchner Gärtnerplatztheater | Bildquelle: Christian POGO Zach

Bildquelle: Christian POGO Zach

Andalusien schwitzt unter der Sonne der Liebe: In Sevilla steigen die Temperaturen derzeit Tag für Tag auf vierzig Grad und mehr. Es geht also in Ordnung, wenn sich die Bauarbeiter dort ständig die Hemden vom Leib reißen und sich halbnackt etwas Luft zufächeln, bevor sie verzückt mit einer Cola hantieren. Dabei hat gar keiner "Ausziehen!" gerufen, höchstens gedacht. Alle übrigen freilich scheinen von der Hitze nicht sonderlich beeindruckt: Der Barbier behält seinen schicken Anzug ebenso an wie die Soldaten ihre Uniform. Und die hohen Herrschaften werden allenfalls von den vielen Mücken gepeinigt, die herumsurren. Da hilft auch keine Sprühflasche.

Steaks für die Amüsiermeile

Regisseur Josef E. Köpplinger und sein Ausstatter Johannes Leiacker zeigen also ein etwas unwirtliches Südspanien. Dass hier vor allem Kakteen mit imposanten Stacheln und Unmengen von Schwebfliegen gedeihen, macht Sevilla auch nicht gerade heimelig. Sieht aus wie eine Wüstenmetropole, hat mehr mit Las Vegas oder dem fiktiven Sündenbabel Mahagonny zu tun als mit Flamenco. Und so sind denn auch ständig die Prostituierten unterwegs, die mexikanischen Mariachi-Musikanten und eine furchteinflößende, schwer übergewichtige Metzgerfamilie, die offenbar die vergoldeten Steaks für diese ausgelassene Amüsiermeile heranschafft. Selbstredend wird mit bündelweise Geld um sich geworfen.

Viele Schlitzohren mit zweifelhaftem Benehmen

Der Barbier von Sevilla am Münchner Gärtnerplatztheater | Bildquelle: Christian POGO Zach Timos Sirlantzis steht in "Der Barbier von Sevilla" als Don Basilio auf der Bühne des Münchener Gärtnerplatztheaters. | Bildquelle: Christian POGO Zach Ganz schön turbulent, dieser "Barbier von Sevilla", der übrigens nicht nur Bärte in Form hält und Perücken kämmt, sondern auch kriminellen Straßenkindern ihre Hehlerware abnimmt und das Bordell mit Aufputschmitteln versorgt. Überhaupt laufen hier ziemlich viele Schlitzohren mit zweifelhaftem Benehmen herum: Der angeblich so edelmütige Graf Almaviva, der knapp drei Stunden lang seiner angebeteten Rosina den Hof macht, zahlt seiner hochschwangeren Ex vor dem neuen Abenteuer noch schnell die doppelten Alimente. Und die Geistlichkeit verschwindet auch gern mal ins Rotlichtmilieu, um dann leicht stimuliert den Heimweg anzutreten. Das ist insgesamt eine durchaus vergnügliche Gesellschaftssatire, wenn auch immer augenzwinkernd, nicht wirklich scharf gewürzt.

Rossini dehnt und staucht die Zeit

Regisseur Köpplinger und Dirigent Michael Brandstätter kommen jedoch wunderbar mit Gioacchino Rossinis umwerfender "Relativitätstheorie" zurecht. Lange vor Albert Einstein hat der Komponist nämlich entdeckt, dass sich die Zeit dehnen und stauchen lässt. So kann eine "Schreck"-Sekunde bei Rossini mal zehn Minuten dauern, und dann werden zehn Minuten in einer einzigen Sekunde abgehakt. Die Handlung bleibt also mal stehen, und rast dann unvermittelt wie ein Tornado voran. Wenn Rossini nicht in der Lage gewesen wäre, die Zeit nach Belieben anzuhalten, hätte er diese Oper auch kaum in 13 Tagen komponieren können. Soviel Rasanz ist schwer zu inszenieren und zu dirigieren.

Auf Knopfdruck in die Zeitlupe

Der Barbier von Sevilla am Münchner Gärtnerplatztheater | Bildquelle: Christian POGO Zach Der ungarische Bass Levente Páll singt die Rolle des Don Bartolo. | Bildquelle: Christian POGO Zach Am Gärtnerplatztheater gelingt das vor allem deshalb so überzeugend, weil die Sängerriege jede Tempoveränderung hervorragend mitmacht. Erst stürzen sich alle in wilde Aktionen, sausen die Showtreppe rauf und runter und überschlagen sich auf dem Sofa, um auf Knopfdruck in die Zeitlupe zu wechseln. Und obwohl auf der Bühne wahrlich viel los ist, bleibt im großen Trubel immer klar, wo sich gerade die Haupthandlung abspielt – wer will, kann sich also mit allerlei Anekdoten am Rande ablenken, all die kleinen Geschichten nebenbei genießen, aber wer lieber dem Barbier beim Geld scheffeln zuschaut und dem Grafen Almaviva bei seinen bizarren Verkleidungsscherzen, der muss sie nicht ständig zwischen Kaktus-Tapete, Pfingstrosen-Dekor und Leuchtreklame suchen.

Gerissene Liebhaber und kampfstarke Amazonen

Der kroatische Bariton Matija Meić ist stimmlich wie schauspielerisch ein wunderbar agiler Barbier, der für seine Auftrittsarie auf einer roten Vespa vorfährt und wirklich alles unter Kontrolle hat. Der ungarische Tenor Gyula Rab als Graf Almaviva ist etwas sehr harm- und konturenlos als gerissener Liebhaber, eher ein braver, verschüchterter Edelmann. Dagegen erweist sich Jennifer O'Loughlin als Mündel Rosina als resolute, sogar kampfstarke Amazone, die sich nichts vorschreiben lässt. Auch die übrigen Sänger, darunter Levente Páll als Don Bartolo und Timos Sirlantzis als Don Basilio, sind mit ungewöhnlich großem Eifer dabei. Und die vielen Statisten machen aus ihren Auftritten wahrlich eindrucksvolle Charakterporträts, wie sie selten zu erleben sind. Ein Sommerspaß, nicht nur für Kakteenliebhaber.

Der Münchener "Barbier"

Informationen über Termine, Besetzung und Vorverkauf erhalten Sie auf der Homepage des Gärtnerplatztheaters.

Sendung: "Allegro" am 9. Juli 2021 ab 6.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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