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Kritik – "All The Good" bei der Ruhrtriennale Nackt zwischen Scherben

Was für eine Karriere, was für ein Leben: Der Mann war tatsächlich israelischer Elitesoldat, tötete in geheimen Missionen im Libanon Hisbollah-Aktivisten, wurde durch Schüsse in die Beine verletzt, quittierte den Dienst, studierte trotz seiner lädierten Knochen Ballett und ging als professioneller Tänzer nach Deutschland. Und da liegt dieser Elik Niv nun splitternackt in der Maschinenhalle von Gladbeck-Zweckel, einem Industriedenkmal, und spielt sich selbst, wie er sich in eine belgische Frau verliebt und deren israelkritische Künstler-Familie total durcheinanderbringt.

"All The Good" bei der Ruhrtriennale 2019. Szenenfoto | Bildquelle: Maarten Vanden Abeele

Bildquelle: Maarten Vanden Abeele

Die Kritik zum Anhören

Elf Menschen habe er getötet, so Elik Niv, und jeder Leiche ein Ohr abgeschnitten, so, wie es üblich war und sozusagen als genetischer Beweis dafür, dass die jeweilige Mission erfolgreich war. Ein Hund war immer dabei, mit durchtrennten Stimmbändern, als stummer Warnmelder, weil die Tiere einen Kilometer weit hören können. Und Sprengstoff haben sie getragen, als Selbstzerstörungs-Roboter in unwegsamem Gelände. Stimmt das wirklich? Die Zuschauer rätseln, die Lebensgeschichte ist jedenfalls authentisch, die blutigen Anekdoten vielleicht nicht, das allgemeine Befremden darüber natürlich volle Absicht.

Bohème in Brüssel-Molenbeek

"All The Good" bei der Ruhrtriennale 2019. Szenenfoto | Bildquelle: Maarten Vanden Abeele "All The Good" bei der Ruhrtriennale 2019. Szenenfoto | Bildquelle: Maarten Vanden Abeele Irgendwann hatte der belgische Theatermacher Jan Lauwers diesen Elik Niv kennen gelernt und beschlossen, mit ihm zusammen ein autobiografisches Projekt durchzuziehen. "All the Good" ist dabei herausgekommen, "All das Gute", ein so verstörender wie lohnender Abend über das Leben der verunsicherten Bohème von heute, über Jan Lauwers Schauspielertruppe "Needcompany" in Brüssel-Molenbeek in Zeiten von Terrorismus und Nahost-Dauerkonflikt. Klar, hier sind alle Künstler gegen das Töten, gegen das Handwerk der Soldaten, und eigentlich auch gegen die israelische Politik, und dann bringt die Tochter diesen Elik Niv mit nach Hause, hat Sex mit ihm, filmt dessen Geschlechtsteil in Großaufnahme, macht sich lustig über ihn, findet seinen Körper sexy.

Lauter unbequeme Fragen

Dieser Teil der Geschichte ist selbstredend fiktiv, aber die Grenzen zwischen Realität und Erfindung sollen absichtlich verschwimmen. Jan Lauwers persönlich führt durch den Abend, stellt den Schauspieler vor, der ihn darstellen soll, erzählt vom Leben aller Beteiligten: Seine kreative Ehefrau, sein rebellischer Sohn, dessen brasilianische Muse, seine Tochter, einige Musiker (Leitung: Maarten Seghers), die nebenbei auch als Fuchs, Ratte oder Krähe einen Auftritt haben. Zwei Stunden lang wird das gemeinsame Leben im Atelier vorgeführt, Eifersüchteleien, Seitensprünge, viele, viele Kunstdebatten und eben die Distanz zu Elik Niv, der mehr geduldet als geschätzt ist und irgendwann lauter unbequeme Fragen beantworten muss: Wie "idiotisch" Israel eigentlich sei, und was das Töten mit einem macht.

Kunst darf keine Kompromisse machen

"All The Good" bei der Ruhrtriennale 2019. Probenfoto | Bildquelle: Phile Deprez "All The Good" bei der Ruhrtriennale 2019. Probenfoto | Bildquelle: Phile Deprez Ja, es ist sehr anstrengend, all diesen Ebenen und Sprachen zu folgen, schließlich wird hebräisch und flämisch gesprochen, englisch und französisch, auch ein paar Sätze deutsch. Aber es bleibt ein ungemein dichter, mal sarkastischer, mal beklemmender, mal satirischer Abend über das Leben zwischen Kunst und Wirklichkeit. Politisches Theater lehnt Jan Lauwers nämlich konsequent ab: Das mache die Politik zu Kunst und die Kunst zur Politik, und beides hält er für gefährlich. Künstler dürften keine Kompromisse machen, nicht die Lösungen präsentieren, die von der Politik erwartet werden. Also bleibt es bei ästhetischen Debatten und einigen aufschlussreichen Bildbeschreibungen.

Glasobjekte aus Hebron

Es geht um Picassos Riesengemälde "Guernica", um Marcel Duchamps Urinal mit dem verwirrenden Titel "Fountain", Brunnen, und die Frage, warum er mitten im Ersten Weltkrieg (1917) nichts Besseres zu tun hatte. Und ganz am Ende wird sehr ausführlich Rogier van der Weydens erschütternde Kreuzabnahme von 1440 gezeigt und gedeutet. Warum? Was hat das alles mit Terrorismus und dem Nahen Osten zu tun? Weil es um die Frage geht, ob bei all der Düsternis in der Welt doch noch irgendwo das Gute zu finden ist. Jan Lauwers wenig überraschende Antwort: Das muss jeder selbst herausfinden – und am besten mehrmals hinsehen, gerade auch bei großen Kunstwerken, um die Wahrheit zu entdecken. Im übertragenen Sinne gilt das dann umso mehr für Menschen.

Fulminante Bildidee

Auf der Bühne sind die Gladbeck 800 Glasobjekte zu sehen, geblasen vom palästinensischen Handwerker Mahmoud aus Hebron, das könnten Sinnbilder für Tränen sein oder einfach Tropfen. Mehrere gehen klirrend zu Bruch, Splitter liegen herum, die Angst ist groß, dass sich jemand verletzen könnte, zumal teilweise barfuß getanzt wird. Was für eine fulminante Bildidee, was für ein gedankenreiches Theatererlebnis! Sehr freundlicher, wenn auch kein überschwänglicher Beifall.

"All The Good" in Bochum

Informationen zu Terminen und Vorverkauf finden Sie auf der Homepage der Ruhrtriennale.

Sendung: "Allegro" am 23. August 2019 ab 06.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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