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Kritik – "Siegfried" in Berlin Mega-Ego im Jogginganzug

Fünfeinhalb Stunden inklusive Pausen. So lange dauert der dritte Teil vom "Ring des Nibelungen". Alle vier Abende präsentiert die Berliner Staatsoper innerhalb einer Woche. "Siegfried" gilt mit seinen Rückblenden als der schwierigste. In Berlin wird er dennoch zum Glanzstück.

Wagners Superheld ist kein Schwiegermuttertraum. Eher ein Trauma. Siegfried bringt den Pflegevater um, köpft den Drachen, verhöhnt Opa Wotan, verführt seine Tante Brünnhilde und benimmt sich über vier Stunden nur daneben. Ein Unsympath, und genau so tobt dieses kindische Kraftpaket durch die Inszenierung des russischen Regisseurs Dimitri Tscherniakow. Woher hat dieser ungezogene Kerl im Adidas-Jogginganzug nur all seine Dummheiten? Er ist eine Laborzüchtung, ein Versuchsobjekt im Forschungsinstitut. Da wächst er auf mit viel Playmobil- und Legospielzeug, komplett beziehungslos und bar aller Selbstzweifel. Ihm fehlt für sein Mega-Ego nur noch die Wunderwaffe, ein Schwert. Er schmiedet es, indem er sämtliches Spielzeug zerstört und damit seine Kindheit beendet. Siegfried zündet den gesamten Haufen an und los gehts. Das Schwert entsteht auf den Trümmern einer einsamen Kinderseele.

Siegfried als Inbegriff toxischer Männlichkeit? In Berlin nicht ganz

Siegfried, der beliebteste Jungenname im Dritten Reich. Siegfried, Hitlers Bild vom germanischen Soldaten, mitleidlos, furchtlos, erorberungswütig. Toxische Männlichkeit ausstrahlend. Andreas Schager spielt ihn zu all diesen Klischees wunderbar konterkarierend, nämlich als lächerlichen Protznichtsnutz. Und singt ihn bis zum letzten Ton seiner permanenten Bühnenpräsenz sicher, kraftvoll, überzeugend. Sein Hassobjekt, Ziehvater Mime, ist ein durchgeknallter Senior mit vielen nervösen Ticks, gerissen und gierig. Stephan Rügamer singt und spielt ihm zum Niederknien, ebenso wie Michael Volle den Wanderer und Johannes Martín Kränzle Alberich. Die drei Alten streifen durch die Institutsräume wie die Opas aus der Muppetshow.  Apropos Institut, das Bühnenbild mit Hörsaal und Schlaflabor und Weltesche und Konferenzraum kostete über eine Million, es dreht sich fortlaufend, auf zwei Ebenen hasten und schleichen alle Verirrten durch die Gänge. Der Wanderer ruft Erda aus den Tiefen der Urwelt in den Konferenzraum.

Christian Thielemann lässt die Musik leuchten und das Ensemble strahlt

Den Drachen erlegt Siegfried im Wartesaal, einen Wilden in einer Zwangsjacke, von zwei Psychiatriehelfern vorgeführt, chancenlos. Dann ist der Weg frei für den Waldvogel und den Felsen, auf dem Anja Kampe als Brünnhilde schlafen sollte, allein, hier ruht sie unter Neonlicht im gleißendweissen Schlaflabor. Es wird ganz großes Kino, wenn der unbeholfene Siegfried sie weckt und beide kichern und nicht so recht wissen, was sie mit der gesungenen Lust real angefangen sollen. "Siegfried" gilt wegen langer Erzählungen und vieler Wiederholungen als der schwierigste der vier Abende des Rings. Nicht so an der Staatsoper. Christian Thielemann am Pult lässt die Staatskapelle leuchten und musikalische Bögen spannen, auch in ungewohnt langsamen Tempi. Die jedoch heben Nuancen hervor, die festgefahrene Hörgewohnheiten aufheben. Die Sängerinnen und Sänger, fast alle Ensemblemitglieder, konnten den Jubel des Schlussapplauses genießen. Ein rauschendes Fest der Stimmen, der Klänge, der Ideen und der präzisen Personenregie. Wagner at his best.

Sendung: "Allegro" am 7. Oktober 2022 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (6)

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Dienstag, 11.Oktober, 12:09 Uhr

Wolfgang

@ Wilfried Schneider

Ich schrieb meinen Kommentar nicht, um Thielemann zu ägern, zumal ich nicht annehme, dass er sich auf den Kommentarspalten des BR rumtreibt. Dass mir Thielemanns zwei "Ring"-Aufnahmen nicht sonderlich gut gefallen, war auch nur als Nebenbemerkung gedacht, da ich mir durchaus der Subjektivität eines Geschmacksurteils bewusst bin.

Tatsache ist, dass Thielemann eine Mitverantwortung für das mittlerweile Jahrzehnte andauernde deutschlandweite Inszenierungsdesaster von Wagner-Opern trägt.

Tatsache ist auch, dass Thielemann im Vorfeld des Berliner "Ring" in einem Interview mit der "Berliner Zeitung" sehr seltsame Aussagen gemacht hat, indem er Wagner zum neidischen Plagiatoren Mendelssohns erklärt hat. Muss die Musikgeschichte umgeschrieben werden? Mendelssohn der neue Mozart, Wagner der neue Salieri?

Ich erinnere auch an seltsame Auftritte Thielmanns mit Heidenreich in der "Ring" Doku, die vor knapp einem Jahrzehnt in 3sat lief (einziger Lichtblick: der unvergessene Stefan Mickisch).

Samstag, 08.Oktober, 09:54 Uhr

Wilfried Schneider

Thielemann als Wagner-Dirigent

Ach, da wird sich der große Christian Thielemann aber gewaltig ärgern, dass ihn der kleine Wolfgang nicht für einen gr0ßen Wagner-Dirigenten hält.

Freitag, 07.Oktober, 17:52 Uhr

Klaus Billand

Siegfrieds Schwert

Der Rezensentin ist offenbar entgangen, dass Siegfried das Schwert überhaupt nicht geschmiedet hat, und schon gar nicht neu! Er steckt beide Stücke in den Rucksack und zerschlägt dann seine Kindheit mit dem Tisch Mimes und seines Maxi-Legospielzeugs und kokelt bei den entsprechenden Gesängen weiteres kleineres ab. Das Schwert bleibt wie es zu Siegmunds Ende war. Denn er steckt nur den abgebrochenen unteren Teil in Fafners Rücken. Mit der Negierung der Schwertschmiedung negiert der Regisseur einen elementaren Teil des „Siegfried“, der Figur selbst, aber auch des ganzen „Ring“!

Freitag, 07.Oktober, 15:21 Uhr

Wolfgang

Vornamen

Die drei bisher veröffentlichen Kritikern der Maria Ossowski zum Berliner "Ring" waren unbefriedigend und zeichneten sich vor allem durch eine Vielzahl von nicht nachvollziehbaren Meinungsäußerungen aus, die auch nicht ansatzweise begründet waren.

Da wundert es auch nicht, dass sie selbst jede Sorgfaltspflicht eines Journalistens gegenüber leicht zu verifizierenden Tatsachen vermissen lässt.

Ossowski behauptet, "Siegfried" sei der "beliebteste Jungenname im Dritten Reich" gewesen. Dies ist falsch. Die drei beliebtesten Vornamen waren "Horst", "Otto" und "Herrmann".

Freitag, 07.Oktober, 15:12 Uhr

Wolfgang

Thielemanns Rolle

Im Vorfeld hatte sich ja Thielmann lobend über die Inzenierung von die Wagner-Kennerschaft des russischen Regisseurs geäußert. Nun entpuppt sich die Inszenierung als eine der üblichen superhässliche Verhöhung der Meisterwerkes Wagners.

Natürlich ist mir bewusst, dass der eingesprungene Dirigent pragmatischen Zwängen unterworfen ist, aber man darf auch nicht vergessen, welche tragende Rolle Thielemann in der unseligen Bayreuther Katharina-Zeit (leider noch andauernd) gespielt hat.

Es spricht einfach nicht für einen gefeierten Wagner-Dirigent, wenn er seine Autorität niemals dafür verwendet hat, die schlimmen Verhöhungen der Werke Wagners durch Regisseure zu verhindern, oder wenigstens abzumildern.

Wobei ich Thielemann auch nicht für einen großen Wagner-Dirigenten halte. Seine beiden Ring-Aufnahmen sind zu für mich zu leichtgewichtig, scheuen das Pathos. Jetzt hat er die absurde These aufgestellt, Wagner müsse wie Mendelssohn dirigiert werden. All das wirft Fragen auf.

Freitag, 07.Oktober, 14:54 Uhr

Wolfgang

Das obige Bild sagt mehr...

...als die tausend Worte der Kritikerin.

Wie kann man den Zauber der Musik Wagners loben, und nicht bemerken, dass die Bilder und auch die hier berschriebenen Ideen der Inszenierung jeden Zauber konterkarieren? Das ist so ein eklatanter Verstoß gegen Wagners Idee von einem Gesamtkunstwerk, dass man wirklich ratlos wird, wie Regisseure und Kritiker so stumpf sein können.

Die Grundidee des Regisseurs, Wagners Mythos und sein Pathos zu pathologisieren, ist ebenso verwerflich wie unorginell. Statt Wagner zu pathologisieren, sollte man sich eher mit der Pathologie des Regietheaters und überhaupt des kindisch-bösartigen Dadaismus, dessen Kind das Regietheater ist, befassen.

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