BR-KLASSIK

Inhalt

Tanzausbildung im Wandel Selbstliebe statt tanzender Skelette

Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung stehen im Ballett an erster Stelle. Demütigungen im Dienste der Kunst sind in Ballettschulen allerdings immer noch an der Tagesordnung. Daran muss sich dringend etwas ändern, finden Expertinnen und Experten. Deshalb findet am Wochenende in München das internationale Symposium "Tanzausbildung im Wandel" statt.

Füße einer Balletttänzerin | Bildquelle: picture alliance / Fotostand | Fotostand / Gelhot

Bildquelle: picture alliance / Fotostand | Fotostand / Gelhot

24 weiße Ballerinen trippeln als Schwäne über die Bühne: ätherisch, grazil, synchron. Eine solche Ästhetik dominiert immer noch die Vorstellung vom idealen klassischen Tanz. Und geht einher mit einem ungesunden Körperkult: dünn, zart, zerbrechlich müssen Tänzerinnen aussehen bei gleichzeitiger Höchstleistung. Sind ein paar Gramm zu viel auf den Rippen, wird das nicht selten zum Thema gemacht. Und oft sogar ziemlich drastisch von den Lehrerinnen und Lehrern angeprangert. Essstörungen sind häufig die Folge. In der Ballettakademie München hat man darauf reagiert. "Wir haben jetzt hier eine Ernährungswissenschaftlerin - seit ein oder zwei Jahren", erklärt die Dozentin für Tanzgeschichte Anna Beke. "Es ist sehr wichtig, die Schülerinnen und Schüler aufzufangen."

Tanzende Skelette sollten passé sein

Gleichzeitig ist es aber auch wichtig, dieses ungesunde Ideal vom tanzenden Skelett aufzulösen. Das sitzt jedoch auch bei vielen Pädagoginnen und Pädagogen tief im ästhetischen Gedächtnis. David Russo, ehemaliger Tänzer und jetzt Lehrer an der Akademie nimmt sich davon nicht aus: "Ich ertappe mich manchmal selbst dabei, dass ich bei tanzenden Mädchen einen Sinn für Ästhetik habe. Dann denke ich: oh, das ist sehr schön. Und erst in einem zweiten Moment merke ich: nein, das ist zu dünn."

Zeit für eine neue Ästhetik

Für eine neue Ästhetik muss erst mal die alte Ausbildung revolutioniert werden. "Forderung ja, Überforderung, nein. Da gibt es ganz klare Grenzen," sagt Anna Beke. Also, weg von der monoton gepredigten Technik einer Agrippina Waganowa. Ihr nahezu weltweit gelehrter klassischer Stil ist mittlerweile über 100 Jahre alt. Da nämlich treten Lehrerinnen und Lehrer vor allem als eiserne Autoritäten in Erscheinung. Bis heute reproduzieren ehemalige Ballettprofis ohne einen Hauch von pädagogischer Ahnung bei ihren Eleven, was sie selbst wiederum von ihren Lehrerinnen und Lehrern erfahren haben: Härte im Dienste einer schwerelosen Schönheit.

Ich ertappe mich manchmal selbst, dass ich denke: ist das schön. Und dann erst merke ich: nein, das ist zu dünn.
David Russo, Dozent an Münchner Ballettakademie

Die Münchner Hochschule hat für ihre Ausbildung einen Codex mit Regeln verfasst. Über allem steht: "Beleidigungen sind ein absolutes no go. Diskriminierungen und persönliche Verletzungen - das sind alles Dinge, die absolut nicht vorkommen dürfen," sagt Anna Beke.

Liebe zum Tanz größer als Selbstliebe?

Auch Anna Beke hat eine klassische Tanzausbildung absolviert und kennt das Gefühl, immer weitermachen zu müssen, obwohl die Füße bluten und die Muskeln brennen: "Ich finde es ein ganz großes Problem, dass die Liebe zum Tanz so groß ist, dass damit teilweise die Selbstliebe aufhört. Und dass nicht verstanden wird, dass man zuallererst sich selbst und vor allem seinen Körper leistbar und gesund haben muss.  Das finde ich ein ganz, ganz zentrales Element unserer Ausbildung", sagt Anna Beke. "Teilweise sind die Studierenden dogmatischer als die Lehrenden selber", findet David Russo. "Sie sind so streng. Sie wollen halt unbedingt."

Hoffnung auf eine neue Form der Tanzausbildung

Eine neue Tanzausbildung umfasst also nicht nur den Schutz der Studierenden vor diskriminierten Methoden der Lehrenden. Sondern auch einen Schutz der jungen Menschen vor ihren eigenen Ansprüchen. Und vor dem Druck aus den sozialen Netzen wie Instagram oder Facebook. "Man zeigt wirklich absolut alles von sich, also hautenge Trikots, es ist wirklich gefährlich", erklärt Anna Beke.

Wir erleben ein Stück Hoffnung und echte Freude.
Anna Beke, Dozentin an der Münchner Ballettakademie

Wenn also der Schwan nicht gerupft werden soll, wird es allerhöchste Zeit, die klassische Ballettausbildung von innen heraus zu revolutionieren. "Wir erleben ein Stück Hoffnung und eine echte Freude. Sie fühlen sich wahrgenommen, gesehen, erkannt und ernst genommen. Es geht um sie, nicht um uns", so Anna Beke.

Sendung: "Allegro" am 25. November 2022, ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (1)

Kommentieren ist nicht mehr möglich.

Montag, 28.November, 10:06 Uhr

Huggle

zaundürre Tanzende

Ein längst überfälliger Entschluß! Auch bei noch so viel Schlemmerei können Berufstänzer nicht dick werden. Immerhin ist Ballett ja ein Leistungssport und zwar ein höchst anspruchsvoller. Aber bei Ballettvorstellungen denke ich mir immer wieder "mein Gott, die schaun aus, wie nach einer Hungersnot!" Es muß doch möglich sein, mit einer normalen Figur zu tanzen und als Tänzer eine Normalfigur zu haben.
Zeit wirds, daß endlich mal klargestellt wird: ja, Tanzende haben Muskeln. Die darf man gerne sehen. Und ja, Tänzerinnen sind Frauen - die haben von Natur aus mehr Oberweite als bloß zwei Punkterln unterm Trikot (zu viel Brust ist tatsächlich ein Ausschlußkriterium bei der Ballettlaufbahn). Einen jeden Hund, bei dem man die Rippen unterm Fell sieht, würde man bemitleiden und aufpäppeln. Höchste Zeit, daß man für Tänzer/-innen den selben Maßstab anlegt. Das Publikum will keine ausgemergelten Halbleichen betrachten, sondern Menschen, die gesund ausschauen.

    AV-Player