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Vladimir Ashkenazy Die Geschichte einer Flucht

In Russland geboren, emigrierte Vladimir Ashkenazy erst nach England, dann nach Island und lebt nun in der Schweiz. Für BR-KLASSIK gibt er anlässlich seines Geburtstags Einblick in sein bewegtes Leben - und erzählt die Geschichte seiner Flucht.

Dirigent und Pianist Vladimir Ashkenazy | Bildquelle: © Decca / Ben Ealovega

Bildquelle: © Decca / Ben Ealovega

Der Hintergrund:

Vladimir Ashkenazy, geboren am 6. Juli 1937 im russischen Gorkij, heute Nischnij Nowgorod, beginnt seine Musikerlaufbahn als Pianist und wird dann als Dirigent weltberühmt. Mit acht Jahren besucht er die Zentrale Moskauer Musikschule. Ashkenazy lernt das russische Pianisten-Ausbildungssystem kennen und profitiert davon. Er wird immer wieder in Wettbewerbe geschickt und gewinnt sie alle. Er gilt in den 1950er Jahren als bester aller junger russischer Pianisten. Mit dem 1. Preis beim Internationalen Chopin-Wettbewerb 1955 und kurz darauf dem 1. Preis beim Königin-Elisabeth-Wettbewerb in Brüssel beginnt schnell seine internationale Karriere. 1963 emigriert Ashkenazy mit seiner Familie nach England, sechs Jahre später nach Island. Seit Ende der 70er Jahre lebt er in der Schweiz.

In einem Gespräch, das wir anlässlich seines 80. Geburtstags mit Ashkenazy führten, erzählte der Musiker von den
verschiedenen Stationen seines bewegten Lebens. Hier geben wir seine Erinnerungen wieder.

Russland

Es gibt viele, die sich nicht unbedingt dem Land zugehörig fühlen, in dem sie geboren sind. Ich schon: Mein Vater war jüdischer Abstammung, meine Mutter war Russin, eine richtige Russisch-Orthodoxe. Ihr Vater war Chorleiter in einer russisch-orthodoxen Kirche und im Prinzip hat mich meine Mutter ganz in dieser Tradition aufgezogen. Deshalb habe ich mich der russischen Geschichte und Kultur auch immer verbunden gefühlt. Mein Vater war ein recht guter Pianist, er hat Unterhaltungsmusik gespielt. Da er sehr viel mit anderen Künstlern herumgereist ist, war er nur selten zu Hause.

Erste Klavierstunden

Dirigent und Pianist Vladimir Ashkenazy | Bildquelle: © Decca / Ben Ealovega Bildquelle: © Decca / Ben Ealovega Meine Mutter hat mich zu meinen ersten Klavierstunden gebracht. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, hat sie gemerkt, wie sehr ich die Musik liebte. Immerzu habe ich irgendetwas gesungen. Auch wenn mein Vater etwas auf dem Klavier spielte, konnte ich schon recht gut dazu singen. Als wir 1943 nach Moskau gezogen sind, hat sie mich zu meinem ersten Klavierlehrer gebracht. Die Kriegsfront war damals noch nicht so nahe an Moskau herangerückt. Dank meines Lehrers habe ich sehr schnell Fortschritte gemacht. Und so wurde ich Pianist. Wenn man wirklich Interesse hat, dann übt und spielt man einfach.

Man geht zu den Klavierstunden, kommt heim und übt weiter. Wir hatten ein winziges Zimmer mit nur acht Quadratmetern und besaßen ein sehr kleines Klavier - mein Vater musste ja auch für seine Auftritte üben. Während meiner Zeit an der Staatlichen Musikschule in Moskau konnten wir in eine andere Wohnung ziehen. Die Professoren fanden mich ganz talentiert und haben sich bei den Behörden eingesetzt. In diesem neuem Appartementblock hatten wir immerhin ein 16 Quadratmeter großes Zimmer. Da hatten wir dann schon einen richtigen Flügel, kein Klavier. Er war zwar sehr kurz, aber wenigstens ein Flügel.

Der Weg in den Westen

Ich hatte nicht geplant, in den Westen zu gehen. Es hat sich so ergeben, weil ich eine Ausländerin geheiratet hatte. Sie war eine isländische Studentin am Konservatorium und wir hatten denselben Professor: Lev Oborin, ein berühmter Pianist und fantastischer Lehrer. Ich habe allerdings nie daran gedacht, deswegen auszuwandern, denn wir wollten eigentlich in Russland leben. Aber das damalige sowjetische Regime war sehr restriktiv. Auslandsreisen waren nur sehr eingeschränkt möglich. Ich hatte Glück, weil ich ein erfolgreicher Pianist war, so konnten sie mich nicht ignorieren.

Schon 1958 hatte ich eine recht erfolgreiche Konzerttournee in den USA absolviert. Die Sowjets wollten mich als ihren jungen talentierten Musiker vorzeigen. Deswegen haben sie mich gefördert. Nachdem wir geheiratet hatten, wurde ich von diversen sowjetischen Institutionen vorgeladen. Sie haben mir erklärt, dass ich meine Karriere vergessen kann, sollte meine isländische Frau nicht sowjetisch werden. Sie musste also ihre isländische Staatsbürgerschaft aufgeben und die sowjetische annehmen.

Ich hatte nicht geplant, in den Westen zu gehen.
Vladimir Ashkenazy

Meine Frau und ich sind sogar zusammen für eine Tournee in die USA gereist. Nach der Tournee habe ich die sowjetische Botschaft gefragt, ob wir auf der Rückreise einen Stopp im Heimatland meiner Frau einlegen können. Ich war ja noch nie in Island gewesen. Die Botschaft hat Moskau gefragt, und von dort hieß es dann, dass nichts dagegen spräche, wenn unsere Flugtickets entsprechend ausgestellt wären. Wir haben also auf unserem Rückweg nach Moskau ein paar Tage Halt in Reykjavik gemacht.

Dirigent und Pianist Vladimir Ashkenazy bei einer Orchesterprobe um 1990 | Bildquelle: picture-alliance / akg-images / Horst Maack Dirigent und Pianist Vladimir Ashkenazy bei einer Orchesterprobe um 1990 | Bildquelle: picture-alliance / akg-images / Horst Maack Eine meiner nächsten Tourneen sollte dann nach Großbritannien führen, meine Frau wollte mich begleiten, was allerdings vom Ministerium abgelehnt wurde. Deswegen konnte ich aber mein Debüt in London nicht absagen. Meine Frau hat das in der isländischen Botschaft erzählt - daraufhin wurde ihr mitgeteilt, dass sie einen Pass und ein Visum bekommen kann, um zu mir zu kommen. Als sie dann in London war, sagte sie mir, dass sie nicht zurückgehen würde. Außerdem hatte sie unseren Sohn mit in den Pass und das Visum schreiben lassen. Er war damals gerade ein Jahr alt. Sie hatte ihnen erzählt, dass sie ihn mitnehmen müsste, weil sie ihn bei niemandem lassen konnte. Also hat sie unseren ersten Sohn mitgenommen.

Als ich den Russen erklärte, dass wir nicht zurückkehren wollen, waren sie natürlich schockiert. Ich war zu der Zeit bereits international bekannt. Sie konnten natürlich nicht zulassen, dass einer ihrer berühmten Künstler der großartigen Sowjetunion den Rücken kehrt. Ich wurde also in die Botschaft in London einbestellt. Dort haben sie versucht, sich möglichst menschlich zu geben. Daraufhin haben wir einen Eintrag zur freien Ein- und Ausreise in unsere Pässe erhalten. Das hatte es bis dahin noch nie gegeben.

Ein endgültiger Abschied

Meine Frau stimmte zu, wollte aber unseren Sohn dennoch bei ihren Eltern in London lassen. Die Russen haben natürlich kapiert, dass wir wieder nach London zurückkommen und nicht in der Sowjetunion bleiben wollten. Wir mussten unsere Pässe abgeben. Für eine weitere Reise nach London musste ich im Kultusministerium mehrmals nach den Pässen fragen. Eines Tages wollte mich die Kultusministerin treffen, da war mir klar, dass alles in Ordnung gehen würde. Die Pässe habe ich noch am selben Tag erhalten. Wir sind dann nach London gereist.

Ich hatte Angst, dass ich meine künstlerische Zukunft aufs Spiel setzen würde.
Vladimir Ashkenazy

Danach sind wir 26 Jahre lang nicht mehr in Russland gewesen, ich konnte ihnen einfach nicht vertrauen. Als ich später mehrere Male für Konzerte nach Moskau eingeladen wurde, habe ich immer abgesagt. Ich hatte einfach Angst, dass ich meine künstlerische Zukunft aufs Spiel setzen würde, wenn ich wieder russischen Boden beträte. Jedenfalls haben sie verstanden, dass ich nicht riskieren konnte, mein ganzes Leben in Moskau festsitzen zu müssen.

Sendung: "Leporello" am 6. Juli 2017, 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK.

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