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Zu Mozarts Requiem KV 626 Über den Tod hinaus

In dieser Woche bringt Mariss Jansons mit Chor und Symphonieorchester des BR Mozarts unvollendetes Requiem zur Aufführung - den bekanntesten und gleichzeitig geheimnisvollsten Torso der Musikgeschichte. Zahlreiche Rätsel umgeben das Werk. Schrieb Mozart es gar für sich selbst?

Die letzten von Mozarts Hand geschriebenen Noten - aus seinem Requiem | Bildquelle: picture-alliance/dpa

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Wenn Mozart länger gelebt hätte: Welche Werke hätte er noch geschrieben, welche Richtung hätte die Geschichte genommen, das Urteil der Zeitgenossen, das Schaffen der Jüngeren? Dieser Frage ging unlängst der amerikanische Musikhistoriker Robert L. Marshall in einer "wissenschaftlichen Fantasie" nach, und er gelangte bei seinem ebenso reizvollen wie gewagten Experiment zu den interessantesten Spekulationen: Mozart wäre - wie vor ihm Haydn - nach England gereist und hätte dort Londoner Symphonien geschrieben; vielleicht hätte er auch eine Einladung aus Russland erhalten; er hätte für Schikaneders Theater weitere Singspiele komponiert und später dann, auf Goethes Initiative, einen "Faust" geschaffen; überdies hätte ihm Da Ponte das Libretto zu einer Shakespeare-Oper gedichtet und ihn nach der Jahrhundertwende zur Übersiedlung nach New York bewogen; Mozarts Verhältnis zu seinem Schüler Beethoven wäre nicht ohne Spannungen geblieben, doch kreativ beflügelnd auf Gegenseitigkeit. Bevor aber Robert L. Marshall zu diesem kühnen Gedankenflug anhebt, gibt er auf die Leitfrage seiner "Fantasie" - was wäre gewesen, wenn - die einzig unumstößliche und greifbare Antwort: Hätte Mozart länger gelebt, er hätte zuerst natürlich das Requiem vollendet. Mit seinem Tod jedoch, in der Nacht auf den 5. Dezember 1791, brach die Komposition der Totenmesse ab. Mozarts Opus ultimum blieb ein Torso, der berühmteste und rätselhafteste seiner Art vor Schuberts "Unvollendeter" und Bruckners Neunter Symphonie.

Auftrag des zwielichtigen Grafen

'Mozart am Klavier', 1789. Unvollendetes Ölgemälde von Joseph Lange | Bildquelle: picture-alliance/dpa Wolfgang Amadues Mozart, Gemälde von Joseph Lange | Bildquelle: picture-alliance/dpa Dass Mozarts letztes Werk ein Requiem ist, sein Requiem, geschrieben "vor dem Tod" und vom Tod zerrissen, ein Fragment am Ende eines viel zu früh verglühten Lebens - diese Summe der Symbole lädt die unfertige Partitur wie zu einem Magneten auf, der Anekdoten, Legenden und Mutmaßungen geradezu magisch anzieht. Was wir tatsächlich wissen, ist dabei durchaus nicht wenig. Graf Franz von Walsegg, der auf Schloss Stuppach am Semmering residierte, gab zum Gedenken an seine am 14. Februar 1791 verstorbene Frau bei dem Bildhauer Johann Martin Fischer ein Grabmonument in Auftrag. Über eine Wiener Rechtsanwaltskanzlei bestellte er außerdem bei Mozart die Komposition eines Requiems, gegen ein beachtliches Honorar, allerdings anonym und unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Der Graf hatte nämlich die zwielichtige Eigenschaft, die bezahlten Partituren abzuschreiben und dann als eigene Schöpfungen auszugeben. So verfuhr er auch mit Mozarts Auftragsarbeit, die unter seiner Leitung am 14. Dezember 1793 in der Neuklosterkirche in Wiener Neustadt als Seelenmesse für die verstorbene Gräfin aufgeführt wurde, und als Komponist firmierte damals "Fr. C[omte]. de Wallsegg". Allerdings war in einem Wiener Benefizkonzert zugunsten der Witwe Mozarts und seiner Kinder die Komposition schon am 2. Januar 1793 erklungen: Mozarts Requiem.

Schrieb Mozart das Requiem für sich selbst?

Constanze Mozart, Frau von Wolfgang Amadeus Mozart | Bildquelle: picture alliance/Heritage Images Constanze Mozart | Bildquelle: picture alliance/Heritage Images Mozarts Requiem? Den Auftrag anzunehmen und auszuführen war zweierlei in jenem letzten, überaus schaffensreichen Jahr des Komponisten. Nachdem er dem Unbekannten seine Zusage gegeben und die Hälfte des vereinbarten Honorars empfangen hatte, musste Mozart nach Prag zur Einstudierung seiner Krönungsoper "La clemenza di Tito" reisen; zurück in Wien stand die Uraufführung der "Zauberflöte" unmittelbar bevor, obendrein musste das Klarinettenkonzert für Anton Stadler fertiggestellt werden. Im September oder wahrscheinlich erst Anfang Oktober begann Mozart mit der Niederschrift seines Requiems (KV 626), die freilich gleichfalls nicht ohne Unterbrechungen voranschritt. Die Kleine Freimaurer-Kantate (KV 623) entstand im selben Herbst. Ihr Vermerk in Mozarts "Verzeichnüß aller meiner Werke" am 15. November war zugleich die letzte Eintragung in diesem eigenhändigen Katalog. Doch zuvor bereits soll Constanze Mozart ihrem Mann die anstrengende und aufregende Arbeit am Requiem für einige Tage untersagt haben - so jedenfalls erzählte sie es Mozarts tschechischem Biographen Franz Xaver Niemetschek. "Seine Unpäßlichkeit nahm sichtbar zu, und stimmte ihn zur düstern Schwermuth. Seine Gattin nahm es mit Betrübniß war [sic]. Als sie eines Tages mit ihm in den Prater fuhr, um ihm Zerstreuung und Aufmunterung zu verschaffen, und sie da beide einsam saßen, fing Mozart an vom Tode zu sprechen und behauptete, daß er das Requiem für sich setze. Thränen standen dem empfindsamen Manne in den Augen. ›Ich fühle mich zu sehr‹, sagte er weiter, ›mit mir dauert es nicht mehr lange: gewiß, man hat mir Gift gegeben! Ich kann mich von diesem Gedanken nicht los winden.‹ Zentnerschwer fiel diese Rede auf das Herz seiner Gattin; sie war kaum im Stande ihn zu trösten, und das Grundlose seiner schwermüthigen Vorstellungen zu beweisen. Da sie der Meynung war, daß wohl eine Krankheit im Anzuge wäre, und das Requiem seine empfindlichen Nerven zu sehr angreife, so rufte sie den Arzt und nahm die Partitur der Komposition weg." Dennoch setzte Mozart das Werk noch weiter fort, ehe er am 20. November unwiderruflich aufs Krankenlager geworfen wurde und ans Bett gefesselt blieb. "Hab ich es nicht vorgesagt, daß ich dieß Requiem für mich schreibe?", soll Mozart wenige Stunden vor seinem Tod ausgerufen haben. Eine andere Quelle, ein Nachruf auf Benedikt Emanuel Schak, den ersten Tamino, berichtet, Mozart habe gemeinsam mit dem Tenor, mit seinem Schwager Franz Hofer und dem Bassisten Franz Xaver Gerl am Nachmittag des 4. Dezember einzelne Sätze des Requiems gesungen: "Sie waren bey den ersten Takten des Lacrimosa, als Mozart heftig zu weinen anfing, die Partitur bey Seite legte, und eilf Stunden später um ein Uhr nachts, verschied (5ten Dec. 1791, wie bekannt)."

Vollendung durch Mozart-Schüler

Der Komponist Abbé Maximilian Stadler | Bildquelle: Wikimedia Commons Abbé Maximilian Stadler | Bildquelle: Wikimedia Commons Das Partiturautograph, das Mozart unvollendet hinterließ, erwies sich nur im Eingangssatz, dem Introitus "Requiem aeternam", und dem Kyrie als nahezu lückenlos. Lediglich die Instrumentation der Kyrie-Doppelfuge musste nachgetragen werden, eine Aufgabe, die Mozarts einstiger Schüler Franz Jacob Freystädtler und Franz Xaver Süßmayr, engster Mitarbeiter des Komponisten in den Monaten vor seinem Tod, bewerkstelligten. Die Sätze der Sequenz von "Dies irae" bis "Confutatis" und das Offertorium "Domine Jesu" mit dem Versus "Hostias" lagen in vierstimmigem Vokalsatz mit beziffertem Grundbass und stichwortartigen Motiven zu den Orchesterpartien vor. Constanze Mozart, die in ihrer schwierigen Lage ein verständliches Interesse haben musste, den Auftrag des (seinerzeit immer noch anonymen) Grafen posthum ausführen zu lassen, um die zweite Hälfte des Honorars zu erhalten, übergab das Requiem-Manuskript am 21. Dezember 1791 an einen anderen Schüler ihres Mannes, an Joseph Eybler, der die Sequenz um die fehlenden Instrumentalstimmen ergänzte, seine Mitwirkung aber bei dem Versuch, das fragmentarische, nach acht Takten abbrechende "Lacrimosa" fortzuschreiben, aufgab. Ihm folgte Abbé Maximilian Stadler, ein österreichischer Komponist, der später noch als musikalischer Ratgeber Constanze Mozarts eine herausragende Rolle spielen sollte: Er schuf nach Mozarts Angaben den Orchestersatz des Offertoriums. Erst dann trat Süßmayr auf den Plan, revidierte Eyblers und Stadlers Instrumentation zu deren Nachteil, vervollständigte das "Lacrimosa" und komponierte die fehlenden Sätze neu, das Sanctus mit Benedictus, das Agnus Dei und die Communio, mit wechselndem Glück und mäßigem Geschick, benutzte dafür aber möglicherweise Skizzen, "Zettelchen", die sich unter Mozarts Papieren gefunden hatten. Das "Lux aeterna" ist mit dem Introitus (abzüglich der ersten 18 Takte), das "Cum sanctis" mit der Kyrie-Fuge identisch. Die Orchesterbesetzung mit ihrem eigentümlich dunklen Bläserklang (je zwei Bassetthörner und Fagotte, keine Flöten oder Oboen) behielt er für alle Sätze bei. Mozarts und Süßmayrs - täuschend ähnliche! - Handschriften wurden schließlich zusammengebunden, nachträglich mit dem vermeintlich autographen Vermerk "di me W: A: Mozart mppa. | 792" versehen und in dieser Form dem Grafen Walsegg übermittelt.

Kirchenmusik war das Lieblingsfach Mozarts. Aber er konnte sich ihr am wenigsten widmen.
Mozart-Biograph Franz Xaver Niemetschek

Späte Hinwendung zur geistlichen Musik

Mozarts Requiem - es bleibt sein Werk trotz aller Ergänzungen und Entstellungen - scheint durch seinen biographischen Rang als Opus ultimum nur mit dem Ende identifizierbar, dem Abschied, der Vergänglichkeit, dem Tod. Doch sei nicht vergessen, dass Mozart im Mai 1791 zum stellvertretenden Kapellmeister am Wiener Stephansdom ernannt worden war, eine unbesoldete Position, die allerdings die Aussicht auf Beförderung mit sich brachte. Wenn Mozart länger gelebt hätte, wäre er womöglich erster Domkapellmeister geworden. Die Hinwendung zur liturgischen Musik um das Jahr 1790 ist auffallend genug nach langer Enthaltsamkeit auf diesem Gebiet. "Kirchenmusik war das Lieblingsfach Mozarts. Aber er konnte sich ihr am wenigsten widmen", erklärt Niemetschek. "Mozart würde in diesem Fache der Kunst seine ganze Stärke erst gezeigt haben, wenn er die Stelle bey St. Stephan wirklich angetreten hätte; er freute sich auch sehr darauf. Wie sehr sein Genie für den hohen Stil des ernsten Kirchengesanges gemacht war, beweiset seine letzte Arbeit, die Seelenmesse, die gewiß alles übertrifft, was in diesem Fache bisher geleistet worden." Was hätte Mozart für die geistliche Musik des anbrechenden 19. Jahrhunderts bewirken können! Mehr als ein Staunen, eine Ahnung davon, ist uns nicht möglich. Wir mögen raten, ob er nach England gereist wäre oder Beethoven unterrichtet hätte, aber uns auch nur andeutungsweise auszudenken, wie ungeschriebene Werke Wolfgang Amadé Mozarts geklungen hätten, übersteigt unsere Vorstellungskraft, hoffnungslos und definitiv. In dieser Hinsicht sind wir alle Süßmayrs - wenn überhaupt.

Zu den Konzerten

Donnerstag, 11. Mai 2017, 20.00 Uhr
München, Herkulessaal der Residenz

Freitag, 12. Mai 2017, 20.00 Uhr
München, Herkulessaal der Residenz
Liveübertragung auf BR-KLASSIK im Radio und per Videostream auf br-klassik.de/concert

Samstag, 13. Mai 2017, 20.00 Uhr
Augsburg, Kongresshalle

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