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Anouar Brahem und der Arabische Frühling "Alles, was ich schrieb, erschien mir banal"

Töne, die dem Hörer auf zarten Schritten entgegenkommen. Und sich Zeit nehmen, um der Wahrnehmung Luft zu lassen: Das sind die Töne von Anouar Brahem. Der 1957 in Tunesien geborene und dort lebende Musiker und Komponist Anouar Brahem verbindet seine arabische Laute, Oud, auf ungemein feinsinnige Art mit den Klängen von Klavier und Bassklarinette. Orient und Okzident finden da so organisch zusammen wie selten. Jetzt kommt Brahem mit seinem Quartett ins Münchner Prinzregententheater, übrigens einen Tag nach seinem 59. Geburtstag.

Anouar Brahem aus Tunesien spielt Oud - arabische Laute | Bildquelle: © Arthur Perset

Bildquelle: © Arthur Perset

Er sehe sich als einen "Baum, der sich vom Grund erhebt und Raum einnimmt - und im Immer-weiter-Wachsen seine Wurzeln tiefer eingräbt". Das sagt Brahem in einem Interview mit BR-KLASSIK. Einerseits Tunis und andererseits Paris, wo er vier Jahre lebte, haben diesen Musiker geprägt. Seine Symbiose aus europäischer und arabischer Musik klingt besonders fein und steht jenseits aller Klischees.

Stark beeinflusst ist Brahems Musik von der arabischen Kunstmusik, der hohen Kultur des Maqam, die Brahem am National-Konservatorium von Tunis studiert hat - und die auf einem komplexen System von Skalen und Modi aufbaut. Zu hören ist sie auf CDs wie "Madar" von 1991 mit Saxophonist Jan Garbarek und Tabla-Spieler Ustad Shaukat Hussain oder "Le pas du chat noir" (2002) sowie "Le voyage de Sahar" (2006) mit Pianist Francois Couturier und Akkordeonist Jean-Louis Matinier. Nicht zuletzt aber auch auf "The Astounding Eyes of Rita" (2009), einer CD, die mit Klaus Gesing (Bassklarinette), Björn Meyer (Bassgitarre) und Khaled Yassine (Darbouka) wieder in ganz neue Klangwelten führte. Wesentlich ist bei Brahem eines: Nicht der exotische Effekt zählt bei diesen musikalischen Begegnungen, sondern die ganz feine musikalische Durchdringung.

Anouar Brahem und der Arabische Frühling

"Souvenance", sein bisher letztes Werk, geschrieben ursprünglich für Oud, Solisten-Ensemble und Kammerorchester, entstand unter ganz besonderen Bedingungen. Während Anouar Brahem neue Stücke schrieb, ereignete sich der sogenannte Arabische Frühling,  jene Serie von Protesten und Revolutionen in Nordafrika und im Nahen Osten, die dazu führten, dass in einigen dieser Länder autoritäre Regime fielen. So auch in Tunesien, der Heimat Anouar Brahems. Der Musiker lebt in einem Vorort von Tunis und war den Ereignissen sehr nah.

Alles, was ich schrieb, erschien mir völlig banal, gemessen an dem, was sich auf der Straße ereignete.
Anouar Brahem darüber, wie er den Arabischen Frühling erlebte

Brahem sagt: "Ende 2010, Anfang 2011 fanden diese berühmten Ereignisse in Tunesien statt. Das politische Geschehen war so stark und bewegte mich emotional so sehr, dass ich lange Zeit nicht arbeiten konnte. Das heißt: Ich habe zwar noch Konzerte gegeben, aber nicht komponiert. Alles, was ich schrieb, erschien mir völlig banal, gemessen an dem, was sich auf der Straße ereignete. Wir lebten Geschichte! Es gab jeden Tag Demonstrationen, Regierungen stürzten. Das war enorm. Dieser Druck musste erst einmal nachlassen. Und dann habe ich wieder angefangen zu arbeiten. Wirklich nichts von dem, was ich 2009 und 2010 geschrieben hatte, habe ich behalten."

Erst kommt das Schweigen, dann die Erinnerung

Der tunesische Oud-Spieler Anouar Brahem | Bildquelle: Robert Ghement, picture alliance / dpa Bildquelle: Robert Ghement, picture alliance / dpa Ein spannendes Beispiel dafür, dass man Kunst nicht vom Leben abkoppeln kann. Ein Ringen mit künstlerischem Gehalt, mit der Fallhöhe des eigenen Schaffens wurde bei Anouar Brahem daraus. Brahem schrieb, sortierte aus, warf weg, schrieb erneut und warf wieder weg. Aus den Jahren der Revolution erschien ihm nichts stark genug. Erst als sich die Erlebnisse gesetzt hatten, konnte er das, was in ihm bewegt worden war, in eine Form bringen, die er selbst guthieß. Sehen, hören, schweigen, neu ansetzen. Heraus kam also "Souvenance", also Erinnerung, Sich-Entsinnen, ein Werk für Oud, Solistenensemble und Orchester. Eine besondere Rolle spielt darin das Klavier, mit dem sich Brahem, vor allem seit seiner Zusammenarbeit mit dem französischen Pianisten Francois Couturier, besonders intensiv beschäftigt hat. Ein leises, nach innen gewandtes Werk mit stiller, großer Kraft.

"Souvenance" - Open-Air Premiere in Karthago

Der Oud-Spieler Anouar Brahem auf der Bühne | Bildquelle: Amine Landoulsi, picture-alliance / AA Anouar Brahem auf der Bühne in Karthago, 2014 | Bildquelle: Amine Landoulsi, picture-alliance / AA Vor 8000 Menschen wurde dieses Werk im Juli 2014 im römischen Theater von Karthago in Brahems Heimatland uraufgeführt - und zwar zur Eröffnung des Internationalen Festivals von Karthago. Karthago: richtig gelesen, der Ort, an dem sich in der Antike eine See- und Handelsmacht befand - die schließlich unterging. Brahem lebt im heutigen Karthago. Und dort wollte er dieses Werk zum ersten Mal einem Publikum vorstellen. In einem Amphitheater hatte er seit 20 Jahren nicht mehr gespielt. Für "Souvenance" wollte er es riskieren. "Generell spiele ich eher an intimen, geschlossenen Orten", so Brahem über den besonderen Konzertabend, "es war ein Risiko, dieses Werk open Air vor so vielen Menschen aufzuführen. Aber wir hatten Glück, das Wetter spielte mit, es gab nicht zu viel Wind - und wir hatten ein großartiges Publikum."

Seismograf gesellschaftlicher Bewegungen

"Souvenance": Ein großangelegtes, leises Werk, das vor dem Hintergrund eines politischen Umsturzes entstand. Aber Brahem betont: "Ich möchte, dass diese Arbeit einfach nur als künstlerische Arbeit wahrgenommen wird", und fügt hinzu, er sehe "Souvenance" gar nicht als politisches Stück.

Es ist allerdings Musik, die gerade durch ihre leisen, zarten Gesten um so klarer nachvollziehen lässt, wie tief bewegt ihr Komponist während der Arbeit an dem Werk war. Musik, die nicht mit dem Zeigefinger, sondern mit ganz feinen Klangnuancen auf gesellschaftliche Bewegungen reagiert. Und die vielleicht gerade deshalb Hörer auch über aktuelles Erleben hinweg bewegen kann.

Konzert

Anouar Brahem Quartett, 21. Oktober, Prinzregententheater München

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