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CD-Tipp 04.10.2019 Louis Sclavis: "Characters On A Wall"

Er ist eine der bekanntesten Figuren des zeitgenössischen Jazz aus Frankreich: der Klarinettist und Bassklarinettist Louis Sclavis. Seine aktuelle CD "Characters On A Wall" findet höchst ungewöhnliche Klänge zu Mauerbildern eines weltweit bekannten Künstlers.

Louis Sclavis: "Characters On The Wall" - Cover | Bildquelle: ECM Records

Bildquelle: ECM Records

CD-Tipp 04.10.2019

Louis Sclavis: Characters on a wall

Gleich entsteht gleich ein starker Sog. Eine ganz leise, aber zwingende Spannung baut sich auf. Mit Stimmen, die zart verschmelzen. Das Blas-Instrument und das Klavier blenden sich fein ineinander, der Bass, mit dem Bogen gestrichen, begleitet leise schreitend, das Schlagzeug setzt kaum merkliche Akzente mit dem Besen. So scheinbar unspektakulär kann das aktuelle Quartett des französischen Klarinettisten Louis Sclavis klingen. Doch dahinter steckt eine ganz eigene Spannung. Benjamin Moussay, Klavier, Sarah Murcia, Kontrabass, und Christophe Lavergne, Schlagzeug, sind hier die Partner des Bandleaders und Komponisten, der seit den 1980er Jahren für eine Musik mit ganz eigenen Farben steht. Und der nicht zuletzt auf der Bassklarinette, jenem sanften Blasrohr, das auch heftig knarzen kann, Maßstäbe gesetzt hat.

DIE TIEFENREGIONEN DER TÖNE

Louis Sclavis ist ein Musiker, der das Nicht-Eindeutige, das reizvoll Schillernde beherrscht. Seine Klänge werfen gern Fragen auf, er treibt ein subtiles Spiel mit Farben und Nuancen. Das gelingt ihm auf dieser CD besonders gut. Manchmal mit Tönen, denen ein Minimum an Bewegung genügt – das sind dann oft tiefe Töne, die auch im übertragenen Sinn in Tiefenregionen vordringen. Es sind Klänge, die etwas von einer Filmmusik haben. Und es ist wirklich Musik zu Bildern. Aber zu nicht bewegten Bildern. Louis Sclavis ist fasziniert vom Werk des französischen Künstlers Ernest Pignon-Ernest, der Mauern in Paris, Neapel oder auch Ramallah mit Schwarzweiß-Zeichnungen versah, denen oft eine lebensechte Dramatik innewohnt. Ein Mann, der wie lauernd an einer Straßenecke lehnt, eine alte Frau unter dem Schatten eines Baumes an einer verwitternden Wand, Häftlinge in Reih und Glied hinter Gittern und unter Stacheldraht.

GEFÜHLE, ÜBERSETZT IN KLÄNGE

Ganz leise können die Töne zu solchen Bildern sein. Und das ist gut. Denn Sclavis und seine Mitmusiker illustrieren Bilder nicht mit Tönen. Sondern sie haben die Empfindungen, die die Zeichnungen und ihr zwingender Dialog mit der jeweiligen Umgebung in ihnen wecken, in Musik übersetzt. „L’heure Pasolini“, das Eingangsstück, ist beispielhaft fürs Ganze. Pignon-Ernests Zeichnung des Filmemachers Pier Paolo Pasolini an einer Mauer in Rom hat Sclavis dazu inspiriert: Pasolini hält einen toten Körper in den Armen, und dieser Tote hat die Gesichtszüge von Pasolini selbst. Da Sclavis bei den zerfurchten Zügen des Filmemachers immer auch an den Jazztrompeter Chet Baker denken muss, erklingen im Bass gleich am Anfang des Stücks Melodiefragmente aus dessen Paradestück „My funny Valentine“ – aber nicht als plattes Zitat, sondern als feines Ausgangsmaterial. Die meisten Stücke auf dieser CD sind Kompositionen, zwei sind offenbar freie Improvisationen, nur als „Skizzen“ benannt. Und alle entwickeln sie ein Eigenleben, das nicht kalt lassen kann. In einigen wenigen Momenten auch mit schnellen Tönen, in denen das Dramatische offener zutage tritt. Jazz mit ganz eigenen, neuen Horizonten – einer, der sich mit der Welt auseinandersetzt und selber dadurch viel gewinnt.

Louis Sclavis: "Characters On A Wall"

Louis Sclavis, Klarinette, Bassklarinette
Benjamin Moussay, Klavier
Sarah Murcia, Kontrabass
Christophe Lavergne, Schlagzeug

ECM Records
ECM 2645 (LC 02516)

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