Eine der rauesten – und zugleich der sanftesten Stimmen der Welt. Wenn er zu Stücken wie "Skin to Skin" oder "Island in the Sun" anhebt, klingt es zum Schwelgen. Und doch gibt es auch kaum einen Künstler, der zugleich so stark auf soziale und politische Missstände aufmerksam macht. Harry Belafonte, der jamaikanische Traummann aus New York und Entertainer mit wachem Gewissen, wird nun 95 Jahre alt.
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"Leg dich abends niemals schlafen, ohne dich tagsüber gegen eine Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen", sagt die Mutter zu Harry Belafonte, als er ein kleiner Junge ist. Diesen Satz hat Belafonte bis heute im Kopf und nutzt seine Popularität als Sänger und Schauspieler, sein Geld und seine Kontakte, um für eine gerechtere Gesellschaft zu kämpfen. Er ist ein politischer Aktivist, der sein Leben lang gegen Diskriminierung, Rassismus, Armut und Sexismus angeht und nicht müde wird, auf Missstände aufmerksam zu machen. So jedenfalls ist auch das Bild, das Harry Belafonte von sich selbst zeichnet in seiner 2012 erschienenen Autobiographie "My Song".
Zugleich ist Harry Belafonte ein einzigartiger Sänger und Entertainer. Wer ihn etwa bei einer seiner jüngeren Tourneen in der Münchner Olympiahalle erlebte, konnte nur staunen über die nicht nachlassende Bühnenpräsenz eines Mannes, der beim Sprechen so rau wie ein Reibeisen mit Rost klang, sich aber mit hinreißender Eleganz bewegte - und beim Singen nach wie vor bezaubern konnte. Wie er die Stimme live bei Songs wie "Island in the Sun" langsam aus dem Nichts holt und mit ihr weite Tonbögen spannt, wie er dabei die Anfangstöne raffiniert anschleift und Melodiephrasen mit perfektem Timing in die Harmonien hineinschmiegt - das ist eine Kunst, die den Unterschied macht zwischen Sängern, die "nur" gut sind und solchen, die zu populären Jahrhundertstimmen werden. Belafonte war dabei stets nicht nur ein herausragendes Talent, sondern auch ein Musiker von großer Ernsthaftigkeit. Er setzte sich viel mit der Geschichte der afroamerikanischen Musik auseinander - mit Gospel, mit Blues, mit Jazz. Und er hat von großen Vorbildern gelernt.
Als Harold George Bellanfanati jr. kommt er 1927 in New York auf die Welt. Seine Mutter, eine Jamaikanerin, arbeitet als Dienstmädchen und Köchin, sein Vater ist ein Schiffskoch aus Martinique, der oft betrunken ist. Harry erfährt Gewalt und wächst in tiefer Armut auf, mal in Harlem mal in Kingston bei seiner Großmutter, aber auch in verschiedenen Pflegefamilien. Rassentrennung war damals Normalität, die Ungerechtigkeiten und die Armut, die er während seiner Kindheit erlebte, schürten seinen Zorn. Ein Zorn, der ihn später dazu bringt politisch aktiv zu werden.
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Seine Mutter ist es, die ihm die Liebe zum Jazz vermittelte, denn trotz großer Armut treibt sie immer irgendwie das Geld auf, um in New York ins "Apollo Theater" zu gehen, wo der siebenjährige Harry dann Jazzgrößen wie Count Basie, Duke Ellington, Billie Holliday oder Ella Fitzgerald hört. Nach seinem Wehrdienst bei der US Navy schlägt er sich mehr schlecht als recht durchs Leben, bekommt durch einen Hausmeisterhilfs-Job Karten für das American Negro Theatre, danach ist für ihn klar, dass er Schauspieler werden möchte. Er schafft es mit Tony Curtis, Walter Matthew, Sidney Poitier, Marlon Brando und anderen, einen der begehrten Plätze im Theaterworkshop des deutschen Kult-Regisseurs Erwin Piscator zu bekommen. Eine Zeit, die ihn prägt: Er schließt lebenslange Freundschaften mit Brando und vielen andern und lernt Werke von Sartre und anderen zeitgenössischen Autoren kennen. "Piscator gab uns ein Gefühl für die gesellschaftskritische Dimension von Theater", fasst er diese Zeit nachträglich zusammen.
Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, jobbt er nebenbei als Laufbursche im Garment District. Durch einen Zufall bekommt er einen Auftritt im Jazzclub "Royal Roost". Er soll in der Pause auftreten - ursprünglich zusammen mit einem Pianisten. Doch die Musiker, die vorher aufgetreten sind, lassen ihre Pause sausen und begleiten den jungen Afroamerikaner. Zusammen mit Al Haig, Tommy Potter, Max Roach und Charlie Parker steht er noch unbeholfen auf der Bühne und singt, ohne je Notenlesen gelernt zu haben, ohne jemals Gesangsunterricht gehabt zu haben. "Ich konnte es nicht glauben. Vier der größten Jazzmusiker der Welt gaben sich als Begleiter eines 21-jährigen, völlig unbekannten Sängers her, der als Pausennummer in einem Nachtclub seinen ersten Auftritt hatte".
Ich bin kein Künstler, der Aktivist geworden ist. Ich bin ein Aktivist, der Künstler geworden ist.
Aus der Pausennummer wird ein Star. Er ist der erste Afroamerikaner, dem die weißen Landsleute zujubeln. "Meine Stimme gefiel den Leuten und mein Äußeres auch", sagt Belafonte, aber es ist weit mehr als das: Als er die Calypso-Songs singt mit der Musik, die er als Kind in sich aufgesogen hat, und mit Texten, für die er sich begeistert, weil sie von Hoffnung, Leid und von Protest handeln - spätestens dann ist Belafonte auch authentisch auf der Bühne und elektrisiert mit seinen Auftritten die Leute.
Die New York Times schreibt: "Ohne auf sich selbst zu achten, konzentriert er sich mit glühender Intensität auf seine Songs. Mr. Belafonte ist ein vollendeter Künstler und mitreißender Interpret." Seine "Calypso"-Schallplatte kommt 1956 auf den Markt und war die erste Schallplatte überhaupt, die sich mehr als eine Million Mal verkaufte! Sie hält sich 31 Wochen auf Platz 1, ohne Unterbrechung. Erst Michael Jackson hat diesen Rekord mit "Thriller" gebrochen.
Der Erfolg der "Calypso"-Platte ändert vieles in seinem Leben: Belafonte bekommt nicht nur unzählige Auftritte als Sänger, er wird auch in Fernseh-Shows eingeladen, bekommt Film-und Fernsehrollen und gründet seine eigene Firma. Dann begegnet er Martin Luther King. Das öffnet ihm einen neuen Weg, der im Laufe seines Lebens für ihn wichtiger wird, als die Musik: Belafonte engagiert sich für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Seine Freundschaft mit Martin Luther King macht ihn zu einem wichtigen Mann, er wird Vermittler hinter den Kulissen der 1960er Jahre und er macht Wahlkampf für Kennedy.
v.l.: Martin Luther King, Jr., Harry Belafonte, Asa Philip Randolph und Sidney Poitier, circa 1960 | Bildquelle: picture-alliance/Glasshouse Images
Der "singende Bürgerrechtler" tourt mit seinen Hits auch durch Europa, bringt Miriam Makeba in den USA groß heraus und engagiert sich mit ihr zusammen gegen die Apartheid in Südafrika. 1985 tritt er als Friedensaktivist mit Udo Lindenberg in Ost-Berlin auf und initiiert das Schallplattenprojekt "We are the world" mit, die dazugehörige Single bringt über 100 Millionen US-Dollar ein.
Er kritisiert die Regierung von George W.Bush, den er als "größten Tyrannen und Terroristen" bezeichnet genauso wie den Nachfolger Barack Obama, bei dem er eine tiefere moralische Überzeugung vermisse. Obama könne vielleicht die Probleme der Mittelschicht und der Banken lösen, aber "solange er sich dem Problem der Armut nicht stellt, ist nichts wirklich gelöst", meint Belafonte 2012.
2016 produzierte er einen Video-Clip mit, in dem auf die ungerechte Behandlung der Schwarzen durch die US-Polizei aufmerksam gemacht wird, zudem unterstützte er im letzten Präsidentenwahlkampf die Demokraten und warb für Bernie Sanders als Kandidaten für diese Partei, denn er "sagt die Wahrheit, was in der Politik eine Seltenheit geworden ist". Mit Sicherheit wird er auch noch passende Worte für das Handeln des gegenwärtigen Präsidenten der USA finden und auch weiterhin seine Popularität, seine Kontakte und auch sein privates Geld für eine gerechtere Welt einsetzen.