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NEUE JAZZ-ALBEN, VORGESTELLT IM GESPRÄCH - Vol. 23 Hören wir Gutes und reden darüber!

Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer überraschen sich und Sie mit aktuellen Jazzalben. Dieses Format wurde mit dem Deutschen Radiopreis 2022 als "Beste Sendung" ausgezeichnet, hier die 23. Ausgabe von "Hören wir Gutes und reden darüber".

Cover: Joshua Redman - Where are we | Bildquelle: Blue Note Records

Bildquelle: Blue Note Records

"Hören wir Gutes und reden darüber Vol. 23" hier zum Nachhören.
In dieser Sendung haben sich Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer zum dreiundzwanzigsten Mal gegenseitig mit Alben überrascht: Niemand wusste vorher, was die jeweils anderen mitbringen würden. Über folgende drei Alben wurde in der Sendung gesprochen.

Joshua Redman: "Where are we", Blue Note Records

"Ich weiß noch nicht, ob und wie ich in meiner Musik diese aktuellen Ereignisse aufgreifen werde. Aber ich denke auf jeden Fall viel darüber nach." Das sagte Saxophonist Joshua Redman im Juni 2020 im Interview mit BR-KLASSIK. Ein weißer Polizist hatte sich wenige Tage zuvor fast zehn Minuten lang bei einer Verhaftung auf den Körper des Afroamerikaners George Floyd gekniet. Floyd überlebte nicht und eine riesige Protestwelle brandete auf in den USA und weltweit. Nun ist Joshua Redmans musikalische Reaktion auf die Ereignisse 2020 in Minneapolis erschienen. Auf dem Album "Where are we" spielt der Tenorsaxophonist ausschließlich Stücke, die Bezug zu amerikanischen Städten oder Staaten haben. Da gibt es fröhlich swingende Versionen von Jazzklassikern, aber es gibt auch Klänge, die zutiefst erschüttern. Gleich das Eröffnungsstück "After Minneapolis (face toward mo[u]rning)" ist ein packendes Meisterwerk und genau dieses Stück ist in den Tagen nach George Floyds Tötung entstanden. Auch die Komposition "Alabama" von John Coltrane in Kombination mit dem lockeren "Stars fell on Alabama" ist aufwühlend. Coltrane hatte das Stück 1963 unter dem Eindruck eines Bombenattentats auf eine Kirche in Birmingham, Alabama, komponiert. Vier Kinder waren vom "Ku Klux Klan" ermordet worden. Joshua Redman wird auf "Where are we" von Pianist Aaron Parks, Bassist Joe Sanders und Schlagzeuger Brian Blade begleitet und es ist die Sängerin Gabrielle Cavassa dabei. Allein die ausdruckstarke Stimme der jungen Musikerin ist für sich schon absolut hörenswert. Ob diese Besetzung auch live überzeugt, das wird sich am 14. November zeigen, da tritt Joshua Redman im Quintett mit Gabrielle Cavassa im Prinzregententheater in München auf.

Shake Stew: "Lila", Traumton Records

Cover: Shake Stew - Lila | Bildquelle: Traumton Records Bildquelle: Traumton Records Wenn eine Band bald acht Jahre zusammen ist und ihren Stil sehr erfolgreich etabliert hat, wenn ein wesentliches Merkmal dieses Stils der Groove ist, den sie trancehaft zelebriert in einer Besetzung, die wie geschaffen dafür ist - mit zwei Schlagzeugen, zwei Bässen und drei Bläser:innen -,  und wenn sie schon ihr sechstes Album herausbringt, wäre es nicht verwunderlich, "more of the same" zu hören, wenn man die CD auflegt oder die Playlist startet. Nicht so bei "Shake Stew", dem Septett des österreichischen Bassisten Lukas Kranzelbinder. Die soghafte Wirkung seiner Kompositionen entfaltet sich ganz ohne spektakulären Knalleffekt schon bei den ersten Tönen. Dafür sorgt ein sehr griffiger Groove im mittleren Tempo, getragen von einer, zum Mitsingen animierenden Bassfigur, über den sich bald ein samtweiches Bläserthema schiebt, in dem das Flötenspiel des Tenorsaxophonisten Johannes Schleiermacher mit Astrid Wiesingers Altsaxophon und Mario Roms Trompeten-Sound verschmilzt. Die Bewegung in der Musik geht unweigerlich in den eigenen Körper über bei dieser ganz entspannt und fast lakonisch klingenden Darreichung. Und gerade wenn man denkt, es könnte einfach immer so weitergehen, kommt die Spoken Word Künstlerin Precious Nnebedum ins Spiel, aufgewachsen zwischen Nigeria und Österreich, mit einem durch und durch existentiellen Text, in dem die Schilderung der eigenen Not auch als Parabel der Nöte des afrikanischen Kontinents gelesen werden könnte. Von den Musikkulturen dieses Kontinents inspiriert ist "Shake Stew" von jeher, und die Band mit den beiden Schlagzeugern Nikolaus Dolp und Herbert Pirker, und ihrem zweiten Bassisten Oliver Potratz ist bekannt für die ekstatische Power und die Intensität ihrer Konzerte, wenn sie sich und ihrem Publikum mit repetitiven Rhythmen und expressiven Soli ein musikalisches "High" beschert. Diese Atmosphäre hält das Album in drei Live-Aufnahmen bereit und so kommt man, in der Kombination mit drei feinfühlig produzierten Studio-Tracks, beim Anhören des Albums "Lila" in den Genuss des ganzen "Shake Stew" Kosmos.

Gonzalo Rubalcaba: "Borrowed Roses", TopStopMusic

Cover: Gonzalo Rubalcaba - Borrowed Roses | Bildquelle: Top Stop Music Bildquelle: Top Stop Music Musik, die das Tempo herunterfährt. Töne zum Innehalten. Zum In-sich-Gehen. Der 1963 geborene kubanische Pianist Gonzalo Rubalcaba hat soeben sein insgesamt drittes Solo-Album veröffentlicht. Der Titel ist Programm: "Borrowed Roses", geliehene Rosen - das sind lauter blühende Schönheiten, die jemand anders komponiert hat. Die reichen von Gershwin-Stücken wie "Summertime" und "Someone To Watch Over Me" über zwei große Klassiker des Komponisten und Songschreibers Billy Strayhorn ("Chelsea Bridge" und "Lush Life") bis hin zu dem Beatles-Stück "Here, There And Everywhere" und dem Sting-Song "Shape Of My Heart". Auch "Take Five", der Hit, den Saxophonist Paul Desmond einst für Dave Brubecks Quartett schrieb, und Cole Porters "Night And Day" sind dabei. Es ist eine hinreißende Auswahl mit vielen lyrischen Stücken - und Rubalcaba spielt sie fast durchweg in radikaler Langsamkeit. Er hält etwa in "Chelsea Bridge" und "Someone To Watch Over Me" fast die Zeit an. Häufig lässt er zwischen den Klängen so viel Raum, dass es fast wirkt, als denke er immer wieder darüber nach, ob er die jeweils nächsten Töne überhaupt spielen solle. Das Ergebnis ist in vielen Fällen magisch: So tief eintauchen in die Schönheit von Harmonien und Melodien kann man selten sonst. Einer der größten Klavier-Virtuosen des Jazz seit den 1980er Jahren gibt sich der Zeitlupe hin. Ganz intime, zarte Momente lässt er in diesen Aufnahmen entstehen, die bei ihm zuhause an seinem eigenen Flügel gemacht wurden. Ein einziges Mal zieht er das Tempo an: In "Take Five" improvisiert er mit luftraubender Präzision über dem kantig-makellos durchgehaltenen rhythmischen Pattern.

Veranstaltungstipp:

"Hören wir Gutes"-Live
Am Sonntag, 22. Oktober 2023 ab 15.30 Uhr überraschen sich Beate Sampson, Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer in Ebersberg im Café Mala beim Festival EBE Jazz 2023 vor Pulikum mit ausgewählten Jazz-Neuerscheinung.

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