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So war das Jazzfest Berlin 2021 Jazz ist, wenn das Unerwartete erklingt

Nach einer reinen Online-Ausgabe 2020 jetzt wieder Konzerte mit Publikum: Das Jazzfest Berlin 2021 stand unter dem Motto "Scenes of Now" und zeigte in einem zum Kulturort umgewidmeten ehemaligen Krematorium eine besondere musikalische Lebendigkeit. BR-KLASSIK-Jazzredakteur Roland Spiegel hat das Festival hautnah erlebt und blickt auf vier klang-ereignisreiche Tage zurück.

Kaja Draksler & Susana Santos Silva am 4.11.2021 im Pierre Boulez Saal in Berlin | Bildquelle: Roland Owsnitzki / Berliner Festspiele

Bildquelle: Roland Owsnitzki / Berliner Festspiele

Bilanz

Das Jazzfest Berlin 2021

Der amerikanische Pianist Vijay Iyer, einer der Weltstars und Intellektuellen des heutigen Jazz, sagte zu Beginn seines Konzerts einen leisen, sehr bemerkenswerten Satz: Er werde "es nie wieder für selbstverständlich nehmen", in einem Konzertsaal vor anwesendem Publikum spielen zu können. Er drückte die Lähmung der ganzen Musikwelt in Zeiten der Pandemie aus – und die Besonderheit von einst alltäglich empfundenen menschlichen Zusammenkünfte.

Die Lähmung abschütteln

The Vijay Iyer Trio am 4.11.2021 im Pierre Boulez Saal in Berlin | Bildquelle: Roland Owsnitzki / Berliner Festspiele Der Pianist Vijay Iyer mit seinem Trio am 4. November 2021 beim Jazzfest Berlin | Bildquelle: Roland Owsnitzki / Berliner Festspiele Iyer und seine beiden Trio-Partner ließen dann eine Musik aufblühen und losbrechen, die jede Lähmung abzuschütteln schien: eine Feier des wiedergefundenen Lebens in Tönen von enormer Energie. Über fast hymnischen, einfachen Melodien entwickelten sich manche der Stücke und entfesselten dann immer wieder einen atemberaubenden Drive. Schlagzeuger Tyshawn Sorey, ein Berg von einem Mann mit ganz feinen Ohren, und Linda May Han Oh, fesselnd präzise Kontrabass-Meisterin besonders schön geformter Töne, versetzten mit dem kantig-kraftvoll spielenden Pianisten den ganzen Saal in einen Zustand musikalischer Elektrizität: Sie verstehen es, in ihrer Musik wie ein einziger Körper zu schwingen – und das Publikum schwingt mit.

Trio des schwedischen Pianisten Bobo Stenson

Pianist Bobo Stenson am 4.11.2021 im Pierre Boulez Saal beim Jazzfest Berlin 2021 | Bildquelle: Roland Owsnitzki Der Pianist Bobo Stenson spielte mit seinem Trio im Pierre Boulez Saal am 4. November 2021. | Bildquelle: Roland Owsnitzki Ein Festival-Glücksmoment an einem Abend, der mit dem Trio des schwedischen Pianisten Bobo Stenson bereits anderthalb Stunden zuvor einen ganz andersartigen Höhepunkt bereitet hatte: mit Jazz-Kammermusik voller verschmitzter Verspieltheit. Und an dem es außerdem ein abenteuerlich leis-sperriges, schönes, schroffes, radikal unberechenbares Duo der Pianistin Kaja Draksler und der Trompeterin Susana Santos Silva zu bestaunen gegeben hatte – dies alles im stilvollen Oval des Berliner Pierre-Boulez-Saals bei der Linden-Oper.

Das 58. Jazzfest Berlin

Der Pierre-Boulez-Saal war – neben dem Hauptspielort "Silent Green", einem Kulturquartier in den Räumen eines ehemaligen Krematoriums, und der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche – einer der Spielorte beim 58. Jazzfest Berlin, das vom 2. bis zum 7. November stattfand und wieder unter der künstlerischen Leitung der Kulturmanagerin Nadin Deventer stand. Sie und ihr Team haben dieses Jahr den Preis des "European Jazz Network" für "Adventurous Programming" erhalten, also für lohnende Programm-Wagnisse.

Live-Übertragungen aus Johannesburg, Sao Paulo und Kairo

Sibusile Xaba introduces IzangoMa am 6.11.2021, Sognage, Johannesburg | Bildquelle: Jonathon Rees Sibusile Xaba introduces IzangoMa zugeschaltet aus Johannesburg | Bildquelle: Jonathon Rees 2020 bestand das Wagnis darin, ein Festival mit gestreamten Konzerten aus Berlin und New York auch ohne Publikum stattfinden zu lassen, damit man die Musikszene in Zeiten der Not unterstützen konnte. Diesmal war Publikum wieder erlaubt, es gab volle Säle mit zuvor minuziös auf Impfnachweis und Pässe überprüften Zuhörern – und zu den in Berlin stattfindenden Konzerten gab es Live-Übertragungen und Beiträge aus Johannesburg, Sao Paulo und Kairo. "Scenes of Now" hieß das Motto, und mit viel auf unterschiedliche Art aktueller Musik feierte das Festival das wieder mögliche Hier und Jetzt von Konzerten. Einige der Konzerte waren aufregend und von existentieller Kraft. Weiterer, sehr erfreulicher Aspekt: Auf ARTE Concert ist das komplette Programm auf Videos zu sehen.

Die Qual der Überschneidungen

Aki Takase’s Japanic im silent green, Betonhalle, am 5.11.2021 | Bildquelle: Camille Blake / Berliner Festspiele Erhielt beim Jazzfest Berlin 2021 den Albert-Mangelsdorff-Preis: Die Pianstin Aki Takase | Bildquelle: Camille Blake / Berliner Festspiele Fürs Live-Publikum war es diesmal allerdings nicht einmal möglich, überhaupt die Hälfte des Programms wahrzunehmen. Manchmal war das ärgerlich, denn an einem der Abende waren gleich drei bedeutende Programmpunkte gleichzeitig angesetzt – und das an unterschiedlichen Orten: die Verleihung des Albert-Mangelsdorff-Preises an die große Pianistin Aki Takase, das Konzert des musikalisch spannend zwischen unterschiedlichen spirituellen Welten vermittelnden Berliner Trickster Orchestra und das bewegende Opus "Seven Storey Mountain" des amerikanischen Trompeters Nate Wooley. Zwei davon musste man verpassen. Andere Programmpunkte konnte man nicht genügend wahrnehmen, um sie beurteilen zu können: Denn ausgerechnet einige der Zuspielungen aus Johannesburg, bei denen es zudem oft tontechnische Mängel gab, wurden nach einigen Stücken ausgeblendet, weil es am Berliner Spielort mit Live-Musik weitergehen musste. Das war unglücklich. Wenn man es nicht besser wüsste, müsste man dahinter eine geringschätzige Haltung gegenüber den Beiträgen vermuten, was den Absichten des Berliner Teams in keiner Weise entspricht.

Das Tosen des menschlichen Scheiterns

Nate Wooley: „Seven Storey Mountain VI“, Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, 5.11.2021 | Bildquelle: Roland Owsnitzki / Berliner Festspiele Nate Wooley und sein Großprojekt "Seven Storey Mountain" spielten am 5. November 2021 in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche | Bildquelle: Roland Owsnitzki / Berliner Festspiele Der in Brooklyn lebende Nate Wooley, Jahrgang 1974, hinterließ bei diesem Festival besonders nachhaltige Eindrücke. Er war zweimal im Programm, und jedesmal mit Musik von existentieller Kraft. Sein Großprojekt "Seven Storey Mountain" ist fast eine Art Stockhausen-Zyklus des Jazz. Es ist in diversen Einzelteilen angelegt, die sich zu einem größeren Ganzen fügen, und Teil 6 war jetzt in der Berliner Gedächtniskirche zu erleben. Dazu anregen ließ Wooley sich von der gleichnamigen Autobiographie des Trappistenmönchs Thomas Merton. Wooleys Musikzyklus will aber nichts Religiöses ausdrücken, sondern das menschliche Scheitern musikalisch reflektieren. In Berlin sang ein sechsköpfiger Frauenchor von der Empore die melancholische Melodie eines Folksongs, zunächst ohne Text. Und eine Band mit Keyboards, Trompete, Gitarre, Pedal Steel Guitar, Violine und mehreren Schlagzeugern schlossen daran ein rund 45-minütiges Crescendo an, das mit leisen, extrem langsamen Tönen begann und immer mehr zu einem schmerzhaft lauten Tosen anschwoll. Die Pedal Steel Guitar spielte übrigens die Musikerin und Komponistin Susan Alcorn, die auch mit ihrer eigenen Band einen sehr guten Auftritt beim Jazzfest hatte. Nach dem lautesten Moment hob wieder die Melodie vom Anfang an, diesmal mit den Worten des Folksongs "Reclaim The Night" von Peggy Seeger, einem feministischen Lied über sexuelle Gewalt und Unterdrückung. Eine leise ausklingende existentielle Wucht hatte Wooleys Werk hier, das man vor dem Hintergrund der Klimakatastrophe auch als musikalisches Abbild der zerstörerischen Kräfte der Menschheitsgeschichte hören konnte: das Bild eines Paradieses, das tosend untergeht.

Führ mich an Grenzen, da erlebe ich Neues

Cansu Tanrıkulu feat. Greg Cohen & Tobias Delius im silent green, Kuppelhalle, am 6.11.2021 | Bildquelle: Camille Blake / Berliner Festspiele Cansu Tanrıkulu feat. Greg Cohen & Tobias Delius am 6. November 2021 beim Jazzfest Berlin im "silent green" | Bildquelle: Camille Blake / Berliner Festspiele Ein öffentlich subventioniertes Festival, das Momente von solcher Intensität ermöglicht, ist künstlerisch auf dem richtigen Weg – und wäre ein gutes Vorbild für andere Festivals, die Zukunftssicherung nur in möglichst populären Namen sehen. In sehr unterschiedlichen Farben gab es in Berlin jetzt lohnend Gewagtes zu erleben. Am letzten Abend spielte in der Kuppelhalle des Silent Green, wo Nischen zu sehen sind, in denen einst Urnen standen, das Trio der aus der Schweiz stammenden und in den USA lebenden Pianistin Sylvie Couvoisier. Da hörte man eine Musik aus oft sehr vertrackten, ganz aus dem chromatischen Kosmos schöpfenden Kompositionen, die nach vier vollgepackten Festivaltagen sofort wieder wach machte. Sie war mit überraschender Leichtigkeit gespielt und machte großen Spaß. Hohes Niveau und Komplexität können viel unterhaltsamer sein als mancher denkt. Die schlafwandlerische Sicherheit etwa des Bassisten Drew Gress gab den zersplitternden Kanten dieser Töne und ihrer manchmal wirbelnden Quirligkeit stets allen Halt der Welt. Am selben Ort abends zuvor: das aktuelle Projekt der jungen Berliner Sängerin Cansu Tanrikulu – mit Gitarrist Marc Ribot, Bassist Greg Cohen und Saxophonist Tobias Delius. Cansu Tanrikulu singt keine herkömmlichen Melodien, sondern setzt die Stimme als Instrument für Gemütszustände ein: Sie sirrt, sie schmettert, sie lässt die Stimme zwischen erdigem Klagen und ins Abstrakte zerstiebenden Lauten schillern und führt stets einen wach reagierenden Dialog mit ihren Partnern. Die bringen diese ganz frei bewegte Musik immer wieder überraschend zum Swingen und schaffen Momente bluesiger Eingängigkeit. Das Ganze hat etwas Archaisch-Raues und ist doch in jedem Augenblick äußerst fein gearbeitet. Ein Abenteuer, schroff und kompromisslos, und doch in vielen Augenblicken von einer ganz eigenen, in sich ruhenden Schönheit.

Austicken mit System und Sinn für Poesie

Voller schöner, unangepasster Lebendigkeit waren manche der Auftritte bei diesem Jazzfest – am poetisch-komischsten wohl derjenige der Band "Koma Saxo", bestehend aus drei Schweden, einem Finnen und einem Deutschen. Rund um den Bassisten Petter Eldh, diesmal mit E-Bass statt Kontrabass, waren da die Saxophonisten Otis Sandsjö, Jonas Kullhammar und Mikko Innanen sowie der Schlagzeuger Christian Lillinger zu hören. Da ergossen sich Saxophon-Töne wie Lava-Ströme, raunten, röhrten, säuselten, stürzten reizvoll ab und wurden dann wieder zu einem entrückt schönen Chor der vielfarbig schimmernden Stimmen – mal auch mit Flöte und Altklarinette. Manches der wild austickenden Themen ihrer Stücke, grundiert von flirrend-präzisem Anarcho-Schlagzeug, mutierte unvermutet zu Klängen von fast entrückter Poesie. Jazz ist, wenn das Unerwartete erklingt.

Sendung: "Leporello" am 8. November 2021 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (1)

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Dienstag, 09.November, 17:13 Uhr

Friedrich Straßer

Jazzfest Berlin 2021

Lieber Herr Spiegel,
meine Frau Luise und ich haben es so gesehen wie Sie. Nadine Deventer ist endgültig angekommen, nun vermisst man ihren Vorgänger Williamson nicht mehr. Der erste Tag im Boulez-Saal war aufregend und mit dem Vijay Iyer-Trio fulminant. Aki Takase und Sylvie Courvoisier waren bärenstark. Schwächer fanden wir die beiden Beiträge von Maria Faust und Stale Storlokken in der Gedächtniskirche. Viele Kirchenorganisten sind da besser, wie der unglaublich gute Olivier Latry von Notre-Dame in Paris, dem leider die Spielstätte abhanden gekommen ist. Wir haben in Regensburg seit vielen Jahren sehr gute Domorgel-Konzerte internationaler Interpreten. Gar nicht einfach fand ich übrigens, die Beiträge des Jazzfests zuhause zu buchen. Obwohl meine Frau und ich seit 1973 zu den Berliner Jazztagen fahren, kennen wir von der aktuellen Szene immer weniger Künstler. Aber das ist ja gerade das Schöne am Jazz, wie Sie es auch sehen - Surprise!

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