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Jazz Festival Münster 2019 Farbenregen unter 1.200 Lampen

Ein Jubiläumsjahr für Jazzfestivals: In Bayern ist es die Internationale Jazzwoche Burghausen, die 2019 ihre 50. Ausgabe feiert. Etwas vorher wurde jetzt in Westfalen das 40-jährige Bestehen eines Festivals begangen, das zu einem Insidertipp für besonders Entdeckungsfreudige geworden ist: das "Jazz Festival Münster". Die Hälfte des Programms bestand aus Deutschland-Premieren. Ein Trio aus Bayern war Tagesgespräch.

LBT beim Jazzfestival Münster | Bildquelle: Ansgar Bolle

Bildquelle: Ansgar Bolle

Wo gibt es das? Ein Programm, das innerhalb von 45 Minuten nach Vorverkaufsbeginn ausverkauft ist und in dem sogar weit hergereiste Spezialisten noch Entdeckungen machen? Alle zwei Jahre im westfälischen Münster. Ein Paradies für Jazz-Neugierige war das dortige Stadttheater jetzt drei prallvolle Programmtage lang. Ein Hör- und Schaustück erster Güte setzte den Schlusspunkt: Das Septett Shake Stew um den Bassisten Lukas Kranzelbinder, der im Moment auffälligste Jazz-Export Österreichs, versetzte seine wuchtig groovenden Stücke mit der Präsenz zweier Spezialgäste: Gitarrist Tobias Hoffmann, alias "The Golden Twaeng" ließ im goldenen Elvis-Anzug wimmernde Vibrato-Sounds und knallige Sixties-Reminiszenzen aufflackern. Und die Sängerin Angela Maria Reisinger alias "Queen Mu" im goldenen "Isis Wings"-Umhang sandte soulige und markerschütternd schrille Lockrufe ins Publikum.

Früchte einer Odyssee

Der Effekt war gekonnt: "Shake Stew", besetzt mit zwei Bässen, zwei Schlagzeugen und drei Bläsern, ist eine der unterhaltsamsten und witzigsten Bands der aktuellen europäischen Jazz-Szene. Getoppt wird diese Musik allerdings dann noch durch den Wortwitz des Bandleaders, der aus der Schilderung einer Anreise-Odyssee – wegen wetterbedingt gestrichener Flüge und überfüllter Züge – eine Comedy-Performance höchsten Charmes macht.

Wirbelwind mit Haarsträhne

Kadri Vorand beim Jazzfestival Münster | Bildquelle: Ansgar Bolle Kadri Voorand | Bildquelle: Ansgar Bolle Unter dem von 1.200 dimmbaren Wohnzimmer-Lampen geprägten Theaterhimmel in dem ungewöhnlich stilvollen 50er-Jahre-Bau waren das bei weitem nicht die einzigen farbenprächtigen Momente in einem Festival, das wieder von Fritz Schmücker – hauptberuflich stellvertretender Leiter von Münsters städtischem Marketing – mit besonderer Lust an Vielfalt und Kontrasten gestaltet wurde. Zu den spektakulärsten Konzerten gehörten die zweier Sängerinnen. Die Estin Kadri Voorand, ein Wirbelwind mit gedrehter blonder Haarsträhne, singt in verblüffend unterschiedlichen Stimmlagen, mal experimentell silbenrasselnd, mal mit manchmal spontan erfundenen Texten – dazu spielt sie markant Klavier und auffällig gut Geige. Sie katapultiert sich so lustvoll von Einfall zu Einfall, dass ihr Begleiter, der Bassist Mihkel Mälgand, schon ein musikalischer Fels sein muss, um von dieser kreativen Brandung nicht weggespült zu werden. Im Quartett rund um den vertrackt folk-inspirierten Gitarristen Bálint Gyémant trat die ungarische Sängerin Veronika Harcsa auf, und ihr manchmal zerbrechliches Timbre blühte besonders in einer sparsam instrumentierten Ballade über die Schwierigkeiten menschlicher Verständigung auf. Jazz-Auftritte mit offenem Horizonten weit über die Konventionen des Genres hinaus.

Techno-Jazz-Knüller aus Bayern

Zum Gesprächsthema machte sich das bayerische Trio "LBT" (Leo Betzl, Klavier, Maximilian Hirning, Bass, und Sebastian Wolfgruber, Schlagzeug), das in einem etwa einstündigen Nonstop-Set sein Konzept einer analog und ohne elektronische Instrumente erzeugten "Techno"-Kammermusik in noch weiter perfektionierter Form mit viel musikalischer Hochspannung und enorm sicher gesetzten dynamischen Wechseln auf die Bühne brachte. Vor allem diese Band und der Saxophonist und Komponist Florian Walter, der in Münster mit dem Westfalen-Jazzpreis ausgezeichnet wurde, standen im Programm für ganz neue Jazz-Impulse. Walter setzte sie mit einem irrwitzigen Altsaxophonsolo mit lauter ausgeflippten Tonbildungen um – und in einem Programm namens "Feldmodul", das Live-Video-Lichtspiele mit knarzenden Tieftonstudien verband.

Jungle-Sounds und Romantik aus Europa

Henri Texier beim Jazzfestival Münster | Bildquelle: Ansgar Bolle Henri Texier | Bildquelle: Ansgar Bolle Vor allem der europäische Jazz zeigte bei diesem Festival seine Vielfalt und Überzeugungskraft: ob mit der Band "Velvet Jungle" des deutschen Saxophonisten Daniel Erdmann, diesmal mit Schlagzeuger Samuel Rohrer als einfühlsamem Counterpart zum Spiel von Vibraphonist Jim Hart und Geiger und Bratscher Theo Ceccaldi; mit dem innigen, gekonnt zwischen romantisch und lakonisch changierenden Duo des polnischen Pianisten Krzysztof Kobylinski und des französischen Trompeters Erik Truffaz, das viele der Besucher im Theater zum sofortigen Run auf den CD-Stand animierte; oder mit dem aktuellen Quintett des 1945 geborenen französischen Bassisten Henri Texier, in dem der Gitarrist Manu Codjia einen intensitätsgeladenen Part beisteuert – und das mit zwei Saxophonen weit gespannte Kantilenen zeitlos schön leuchten ließ. Dagegen tönte das hochkarätig besetzte Quartett "Throw a Glass" des amerikanischen Cellisten Erik Friedlander (mit Mark Helias, Bass, Uri Caine, Klavier, und Ches Smith, Schlagzeug) merkwürdig nüchtern in einem Programm, in dem es ausgerechnet um die Wirkungen der "grünen Fee" Absinth ging. Da entstand trotz hochprozentiger Musiksubstanz kein Rausch.

Traumtheater für den "blinden Seher"

Was viele über eine Stadt wie Münster nicht wissen, aber vielleicht doch wissen sollten: In ihr liegt der amerikanische Kult-Musiker und Komponist Moondog begraben, der bis in die frühen 1970er Jahre eine Straßenmusik-Attraktion in New York war, später nach Deutschland ging und 1999 in Münster starb. Die Band "Perpetual Motion" um den französischen Saxophonisten Sylvain Rifflet und seinen amerikanischen Kollegen Jon Irabagon huldigte diesem "blinden Seher" (Paul Simon) mit Stücken, die aus Tonband-Zuspielungen mit Originaltönen eines anonymen Straßenbettlers, Rock-Zutaten, geisterhaft aufscheinenden Melodien und vertrackt-organischen Rhythmen ein hochgradig sinnliches Traumtheater der Töne machten. Auch da wurde klar: In Münster lernt ein musikalischer Tourist etwas dazu – und kann dabei enorm viel Hörvergnügen haben.

Sendung: "Leporello" am 09. Januar 2018 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Sendung: "Jazz und mehr" am 19. Januar 2018 ab 18:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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