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Keith Jarrett live in München Der Unfassbare

Einziger Solo-Auftritt in Deutschland – von einem Klavier-Weltstar, der auch für seine Launen berühmt ist. Da waren die Erwartungen gespannt wie selten. Und selten werden sie so nachdrücklich erfüllt. Keith Jarrett, der große Improvisator, für den das Wort Jazz viel zu eng ist, spielte zwei Stunden lang himmlisch. Bei ungemein gelöster Stimmung. Und ließ am Ende doch noch das verbale Schachtel-Teufelchen raus. Ein Abend mit Nachhall-Garantie.

Jazzpianist Keith Jarrett | Bildquelle: ECM Records/ Rose Anne Colavito

Bildquelle: ECM Records/ Rose Anne Colavito

Das erlebt man nicht oft: ein Publikum, das so pünktlich, fast überhastet die Plätze einnimmt. Das so mucksmäuschenstill ist, sobald der Saal abgedunkelt wird. Das amüsiert raunt, als die Tür seitlich der Bühne aufgeht und der Star doch noch nicht hereinkommt. Und das dann fast wie in einer Schockstarre ausharrt, als der Musiker dann ganz langsam hereinschlendert. So, als wolle er es sich noch einmal überlegen, ob er heute wirklich spielt. Ganz in schwarz und so leise, als wäre er gern unsichtbar, durchmisst er die gut zehn Meter zu den Tasten – mit getönter Brille in einem Raum, der bis auf ein ovales Spotlight, das den Konzertflügel umhüllt, völlig finster ist. Und beginnt dann mit einem sperrig-introvertierten Stück, das in einen auffallend düsteren Groove mündet. Als es endet, wagt keiner zu klatschen – bis der Meister vom Klavierschemel aus dann über die Schulter hinweg wie in einem Anfall von Leutseligkeit sagt, man dürfe schon applaudieren, wenn man wolle. Und so geschieht's. Erlöstes Beifall-Rauschen.

Selbst ein paar Handvoll Leute könnten kaum leiser sein als die beinahe 2400 Besucher in der seit Wochen ausverkauften Philharmonie im Gasteig an diesem Abend. Man hatte vorgebaut: Einen Eklat gleich zu Beginn des Konzerts, wie vor wenigen Tagen in Wien, als Keith Jarrett darauf bestand, dass ein Besucher den Saal verließ, der ihn beim Hereinkommen mit dem Handy fotografiert hatte, wollte man nicht riskieren. Die Veranstalter legten Blätter aus, in denen darum gebeten wurde, alle elektronischen Geräte auszuschalten, „während des gesamten Konzertes und des Schlussapplauses“ keine Fotos zu machen – und „Huster und andere störende Geräusche“ zu vermeiden; ein Text, der vor Beginn auch noch verlesen wurde. Denn Keith Jarrett ist bekannt dafür, dass er Konzerte unterbricht oder auch ganz abbricht, wenn hustende Zeitgenossen ihn aus der Konzentration bringen. Einen Total-Abbruch gab es sogar in München schon mal: vor 24 Jahren am selben Ort. Der bisher letzte Solo-Abend Jarretts in dieser Stadt. Und der jetzige sollte anders enden.

Die Welt der Musik in 88 Tasten

Fast wie ein Akt der Versöhnung wirkte diesmal Vieles. Und nach dem sperrig-düsterem Beginn – den man noch einmal anders hörte, wenn man wusste, dass der Musiker die letzten Nächte in Nizza, in unmittelbarer Nähe des verheerenden Terror-Anschlags, verbrachte – öffnete sich die Musik immer mehr. Die Klangfarben wurden heller, die Melodien zugänglicher. Erster Höhepunkt: ein leises, lyrisches Stück, das wie ein Folksong klang, den man noch nicht kennt, mit einem einschmeichelnd-schönen Thema und feinen Blues-Tupfern. Ein potentieller Jarrett-Hit, den man sehnsüchtig auf CD erwarten wird. Jubel.

Völlig erstaunlich, welche musikalischen Welten dieser Musiker in der ersten Hälfte des Abends scheinbar mühelos durchstreift. Jarrett, 71, rank, schlank und katzengleich geschmeidig in seinen Bewegungen hinter und über den Tasten, spielt – und zelebriert - hier eine universelle Klaviermusik: von der ganz strengen, gemessenen Improvisation über einem Vierton-Motiv über einen erdig-kantigen Blues bis hin zu spätromantischen, raffiniert miteinander verketteten Arpeggien. Die Grenzen zwischen den Traditionen klassischer Klaviermusik und des Jazz fallen, als wären sie nie dagewesen. Und spieltechnisch ist hier Stück für Stück makellos: Stimmen, die wie mit einem Leuchtstift hervorgehoben scheinen, eine immer wieder unglaubliche Klangbeherrschung, enormer Sinn für Nuancen, für organischen Fluss, für Form. Und dann auch noch, offenbar, ausnehmend gute Stimmung zwischen Musiker und Zuhörern.

Keith Jarrett bestens gelaunt

Pianist Keith Jarrett vor einem Konzert in Rio | Bildquelle: Daniela Yohannes/ECM Records Bildquelle: Daniela Yohannes/ECM Records Nach der Pause: eine wie nahtlose Fortsetzung – und einige Überraschungen. Jarrett spielt ein lyrisches Stück mit so fesselnd poetischen Wendungen, dass einem fast der Atem stockt. Und geht dann zu einem wenige Meter links vom Klavier aufgestellten Sprechmikrophon. Um zu erklären, dass dieses Stück jetzt eigentlich ein perfekter Schluss des Abends gewesen wäre. Aber es sei ihm ausgerechnet jetzt schon in den Sinn gekommen. Er betont noch einmal, dass er an seinen Solo-Abenden alles komplett improvisiere, dass er sich musikalisch nicht wiederholen möge. Alles sei jedesmal anders, er, der Musiker, verändere sich ja auch ständig - er muss irgendwann den Satz des französischen Philosophen Roland Barthes gelesen haben: „Ich gleiche mir nie“. „Why am I giving a lecture?“ fragt er dann lachend, und meint dann, ein Blues wäre doch eine gute Möglichkeit, weiterzumachen – und improvisiert einen.

Was folgt, ist abermals ein Eintauchen in völlig unterschiedliche Klangwelten und Temperaturen. Markant groovende Bässe, dann so zart wirbelnde Strukturen, die die Musik fast in einen virtuosen Auflösungs-Vorgang überführen, schreitende Ausdeutungen einer melodischen Idee – und ein ganz wildes Free-Jazz-Scherzo am Ende. Hier wird klar: Jarretts Kunst besteht besonders darin, in musikalischen Momenten völlig aufzugehen: ein radikales Sich-Selbst-Hineinprojizieren in Klangwelten. Eine vollkommene Kunst der Versenkung, die nur dann funktioniert, wenn ein Musiker ganz und gar Kontrolle über den Moment hat – und nicht neben sich steht. Ein ruhiger Saal ist da sehr sachdienlich. Keith Jarrett kann diese musikalische Empfindsamkeit nur abrufen, wenn die Zuhörer andächtig still sind.

Die gelöste Stimmung hielt – mit einem Pianisten, der immer wieder zu Scherzen aufgelegt schien, etwa als er mitten im zweiten Teil aufstand, sagte „Das sieht wie ein Ende aus, ich komme aber wieder“, und sich offenbar eine andere Sonnenbrille holte. Diese Stimmung steigerte sich bis hin zu den mit stehenden Ovationen gefeierten Zugaben: zunächst dem alten, aus Deutschland stammenden Ohrwurm „Answer me“ - auch bekannt als „Mütterlein, Mütterlein, könnt' es nochmal so wie früher sein“ sowie mit einem anderen Text unter dem Titel „Glaube mir“, komponiert von Gerhard Winkler und mit den Worten des einstigen BR-Moderators Fred Rauch. Dem folgte ein faszinierendes Moll-Stück mit Folk- und Spiritual-Anklängen und schließlich der Judy-Garland-Hit „Over the Rainbow“, alle drei gespielt als Meisterwerke schillernder Hingabe.

Ein Abschied zum Wegspülen

Alles wunderbar also bis zu diesem Augenblick: ein Abend, der mit Sicherheit zu den ganz großen des Solo-Künstlers Keith Jarrett gerechnet werden kann – zwei Stunden voll leuchtender Intimität. Hätten dann nicht plötzlich die Handys aufgeleuchtet - noch schnell ein Foto, vielleicht merkt er's ja nicht? - und Jarrett dazu verleitet, noch einmal zum Publikum zu sprechen. Da fiel dann dreimal in den Bemerkungen, darüber was er von solchen Aktionen hält, ein in zivilisierten Welten absolut überflüssiges A-Wort. Den schalen Nachgeschmack, den solche Abschiedsworte hinterlassen können, sollte, wer kann, mit den Erinnerungen an die außergewöhnlich bewegende Musik dieses Abends wegspülen. Denn dieser 16. Juli 2016 brachte München ein musikalisches Ausnahme-Ereignis.

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