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Tenorsaxophonist Mark Turner "Ich bin nicht talentiert"

Am 12. Juli 2016 war Tenorsaxophonist Mark Turner mit seiner Band, besetzt mit amerikanischen Weltklasse-Musikern, im Jazzclub Unterfahrt in München zu Gast. In der Jazztime auf BR-KLASSIK am 9. Dezember gibt es Highlights aus dem Konzert. Hier ein Interview über Mark Turners Band, seinen Einfluss auf junge Musiker und über einen Unfall, der fast seine Karriere beendet hätte.

Live im Jazzclub Unterfahrt | Bildquelle: Ralf Dombrowski

Bildquelle: Ralf Dombrowski

Ein ausverkaufter Jazzclub Unterfahrt, zwei Sets à 70 Minuten Jazz höchsten Anspruchs, dann ein kleines Glas Wein und los zum Interview im Gang des Einstein-Kulturzentrums, auf einer Couch. Mark Turner ist erschöpft, aber zufrieden. Vor zwei Jahren erschien sein aufsehenerregendes Quartett-Album Lathe of Heaven beim Label ECM. Seither ist der Saxophonist vor allem als Bandleader auf Tour. Wir sprechen über Saxophonblätter, über Kompositionsmöglichkeiten, über Groove und über seine aktuelle Band. Der hagere 52-jährige wirkt mindestens 15 Jahre jünger. Er ist etwas schüchtern, wird aber im Laufe des Gesprächs immer entspannter. Wir plaudern fast, auch über so ernste Themen wie seinen Unfall im Jahr 2008.

Freiheit und Verantwortung

BR-KLASSIK: Ihr aktuelles Quartett ist mit Tenorsaxophon, Trompete, Kontrabass und Schlagzeug besetzt, hat kein Harmonieinstrument, warum?

Mark Turner: Freiraum! In dieser Besetzung gibt es mehr davon für jeden Musiker. Ich mag diesen Freiraum, weil es den Musiker verpflichtet, für diesen Freiraum Verantwortung zu übernehmen, ihn nicht sofort zu füllen, nur weil er es könnte. Viele Musiker denken: "Oh, da ist Platz, da kann ich ganz viele Noten spielen". Genau das mag ich aus ästhetischen Gründen überhaupt nicht. Es gibt nur wenige Momente, wo das passieren kann und darf. Kurz gesagt: Du musst wissen, wann du spielen sollst und wann du besser eine Pause machst. Das erfordert natürlich viel Selbstbeherrschung. Wenn ich Musiker für meine Band engagiere und ich spüre, sie fühlen sich nicht verantwortlich für diesen Freiraum und gehen nicht sorgsam damit um, dann werden sie wohl nicht noch einmal in meiner Band spielen. Ich mag einfach die Herausforderung, die der Freiraum mit sich bringt.

BR-KLASSIK: Sie sind für sehr viele junge Musiker der einflussreichste Saxophonist mindestens der letzten zehn Jahre.

Mark Turner: Was, glauben Sie wirklich? Da kenne ich aber viele andere.

Durch intensive Arbeit zum Erfolg

BR-KLASSIK: Was bedeutet es für Sie, ein Idol für andere zu sein?

Mark Turner: Ich weiß nicht, das fühlt sich komisch an. Ich glaube, es ist das größte Kompliment, das man als Musiker bekommen kann. Aber es ist deshalb komisch, weil ich immer sehr langsam gelernt habe. In der Schule war ich sicher nicht der beste Saxophonist, ich war maximal Durchschnitt. Das soll nicht bescheiden klingen, das ist die Wahrheit. Es gibt viele Saxophonisten, die sicher all diese Studenten auch kennen, Donny McCaslin, Seamus Blake, Chris Cheek und andere, die spielten zu der Zeit in den wichtigen Bands, ich nicht. Ich bin nicht talentiert, ich muss viel arbeiten. Ich bin nicht so einer, der aufwacht und losspielt, wie Chris Potter zum Beispiel. Ich muss mich eine  Stunde lang einspielen und all diese Sachen. Aber wissen Sie, alles kommt und geht, eine Mode der Zeit. Wenn ich gerade in Mode bin, schön, aber es wird auch wieder jemand anderes in Mode kommen. Wenn mich die Studenten aber genau deshalb mögen, weil ich so lange arbeiten und üben musste und trotzdem Profi geworden bin, dann wäre das am besten.

BR-KLASSIK: Im Jahr 2008 hatten Sie einen schrecklichen Unfall. Sie haben sich mit einer Säge verletzt.

Mark Turner: Oh ja, die Sache mit meinen Fingern. Ich hatte mir am Zeigefinger und am Mittelfinger der linken Hand die Sehnen und die Nerven durchtrennt. Das bedeutet, wenn die Operation nicht geglückt wäre, hätte ich kein Gefühl mehr in den Fingern oder könnte sie sogar noch nicht einmal mehr bewegen.

BR-KLASSIK: Von außen betrachtet erscheint es wie ein Wunder. Sie standen nur vier Monate nach dem Unfall wieder auf der Bühne und konnten Saxophon spielen.

Mark Turner: Alles ist gut gelaufen, kann man sagen, dank der modernen Medizin.

Wehleidigkeit? Nein danke!

BR-KLASSIK: Hat dieser Unfall Ihr Leben verändert?

Live im Jazzclub Unterfahrt | Bildquelle: Ralf Dombrowski Mark Turner | Bildquelle: Ralf Dombrowski Mark Turner: Ja und nein. Seit dieser Sache versuche ich, nicht so sehr von der Musik abhängig zu sein. In dem Sinne, dass nicht alles verloren ist, wenn ich keine Musik mehr machen kann. Ich liebe die Musik, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich glaube aber, wenn du dich zu abhängig von etwas machst, sei es Musik, Kunst, deine Frau, dein Mann, dein Auto, was auch immer, und du erwartest, dass diese Sache dich allumfassend glücklich machen soll - dann gibt es wohl tiefere Probleme, die behoben werden müssten (lacht).
Aber natürlich habe ich über die Sache mit den Fingern sehr viel nachgedacht und selbstverständlich hat das schon mein Leben verändert. Ich war nicht fröhlich in dieser Situation, aber ich habe mir gesagt: Du hast Musik gespielt. Du konntest etwas machen, von dem Du gedacht hast, dass es nicht möglich sein könnte. Als Jugendlicher konnte ich mir nicht vorstellen, als Profi-Saxophonist auf der ganzen Welt auftreten zu können. Wenn das jetzt alles wegen den Fingern vorbei sein sollte, dann: Hey, ich habe mehr als zwanzig Jahre als Profi gearbeitet und ich konnte davon leben. Wie viele Menschen auf diesem Planeten können das? Fünf Prozent, ein Prozent? Weinen, weil das nicht mehr möglich ist - ich weiß nicht, das ist etwas kindisch, oder? Deshalb hat dieser Unfall mein Leben eigentlich nicht so sehr verändert. Ich war nie völlig am Boden zerstört.

Jazztime

Am Freitag, 09. Dezember ab 23.05 Uhr auf BR-KLASSIK
"I'm not talented"
Der amerikanische Saxophonstar Mark Turner in einer herausragenden Live-Aufnahme zusammen mit Trompeter Jason Palmer, Bassist Joe Martin und Schlagzeuger Johnathan Blake Aufnahme vom 12. Juli 2016 im Jazzclub Unterfahrt, München
Moderation und Auswahl: Ulrich Habersetzer

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