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Wolfram Knauers Buch "Play yourself, man!" The German Sound

Noch nie wurde die Geschichte des Jazz in Deutschland so fakten- und facettenreich erzählt. Ein über 500 Seiten starkes Buch, das jetzt schon ein Standardwerk ist.

Leiter des Jazzinstituts Darmstadt Wolfram Knauer | Bildquelle: Roland Spiegel

Bildquelle: Roland Spiegel

Wolfram Knauer ist Musikwissenschaftler und Direktor eines weltweit renommierten Forschungs- und Dokumentationszentrums über Jazz: des 1990 gegründeten Jazzinstituts Darmstadt. Auf den letzten Seiten seines neuen Buchs steht etwas sehr Aufschlussreiches über den Autor. Er habe ursprünglich streng getrennt: zwischen Musik für den Kopf und Musik fürs Herz. Das Herz gehörte dem Jazz. Seine Doktorarbeit wollte er ursprünglich nicht über diese Herzensmusik schreiben. Als sein Doktorvater aber nicht lockerließ, schrieb Knauer schließlich eine Arbeit über das Modern Jazz Quartet, eine Gruppe, die beide Welten miteinander verband.

EIN BUCH ÜBER "FÜNF VERSCHIEDENE LÄNDER"

Hätte der Doktorvater damals nicht insistiert, wäre womöglich Vieles anders gekommen im Lebenslauf des Autors. Und es würde jetzt nicht ein Buch geben, das bisher sehr gefehlt hat: "Play yourself, man! Die Geschichte des Jazz in Deutschland" (Reclam, 530 Seiten, 36 Euro). Reichhaltiger und differenzierter hat noch niemand über die komplexe Geschichte dieser nicht nur im 20. Jahrhundert besonders kreativen Musik in einem Land geschrieben, das dem Jazz in rund hundert Jahren äußerst wechselhaft gegenüberstand. Das Buch ist nicht nur ein Buch über Musik geworden, sondern auch eines über deutsche Geschichte - aus einem besonderen Blickwinkel heraus.

Leiter des Jazzinstituts Darmstadt Wolfram Knauer | Bildquelle: Roland Spiegel Bildquelle: Roland Spiegel Wie Knauer in einem BR-Interview erläuterte, geht es dabei nicht um ein einziges Land, sondern eigentlich um fünf Länder: die Weimarer Republik, Nazi-Deutschland, die Bundesrepublik Deutschland nach 1945 und die DDR sowie das wiedervereinte Deutschland nach 1989. Welche Rollen die genuin amerikanische Musik in diesen Gesellschaften spielte und spielt, wie sich dabei auch eigene Spielarten dieser Musik herausgebildet haben, das liest sich atemberaubend spannend und schlüssig – vielleicht gerade weil Knauer nirgends etwas aufbauscht. Da heißt es etwa über den Jazz der Zwanziger Jahre: "Die Musik der Zeit lässt sich am besten anhand ausgewählter Musikerkarrieren und der Aufnahmen erschließen, die erhalten sind." Genau dieses nüchterne und zugleich äußerst zuverlässige Verfahren wendet Knauer auf alle Epochen an. Und sogar die Vorgeschichte liefert er dazu: Knauer beginnt sein Buch mit der aufschlussreichen Erwähnung eines afro-amerikanischen Ensembles, das im deutschen Kaiserreich mit amerikanischen Spirituals gastierte. Und er endet mit Beobachtungen, die bis ins aktuelle Jahr reichen: "Diverser" und "weiblicher" sei der Jazz in Deutschland in den letzten Jahren geworden - und dennoch sei festzustellen, "dass es auch 2019 bislang nur zwei Instrumentalprofessorinnen an einer deutschen Hochschule gibt und nur drei Musikerinnen in den Bigbands des öffentlich-rechtlichen Rundfunks".

VERFEMTE UND DOCH NICHT GANZ VERBOTENE MUSIK DER NS-ZEIT

Leiter des Jazzinstituts Darmstadt Wolfram Knauer | Bildquelle: Roland Spiegel Bildquelle: Roland Spiegel Man merkt schon an einigen wenigen Stellen, dass Wolfram Knauer hier inhaltlich viel Fundiertes mitzuteilen hat. Er habe anderthalb Jahre an dem Buch geschrieben, aber vierzig Jahre dazu recherchiert, sagt er auf die Frage nach dem Arbeitsaufwand, der hinter der Veröffentlichung steckte. Nichts ist da oberflächlich abgehandelt oder schnell hingeworfen. Was ebenfalls für das Buch und den Autor einnimmt, ist die Differenziertheit der Einordnungen und Urteile. An vielen Stellen offenbart sich, dass Knauer beim Anhören mancher historischer Aufnahme selbst überrascht war über unerwartete Nuancen. So etwa in einem Abschnitt über den Jazz während der NS-Zeit, in der "verjazzte und verjudete Tanzmusik", wie es in Veröffentlichungen seit 1933 hieß, zwar verfemt, aber doch nicht komplett verboten war und manchmal auch, etwa zu der Zeit rund um die Olympischen Spiele 1936, als Propaganda-Instrument diente; denn die Hauptstadt Berlin sollte als weltoffene Metropole dargestellt werden. Die Band des Saxophonisten Teddy Stauffer nahm im Juli 1936 in Berlin ihre Version von Benny Goodmans Hit "Goody Goody" auf. Wolfram Knauer stellt beim Vergleich der Aufnahmen fest, dass Stauffers Einspielung zwar schon deutlich steifer beginne als das Original, dass außerdem ein arrangierter Chorus des Saxophonsatzes das Klarinettensolo ersetzt - dass aber dann ein kurzes Solo des Posaunisten Walter Dobschinski zu hören sei, das mit seinen Akzentsetzungen, seinem Sound und auch mit seinem Melodiebau aus allem herausrage: "Vier Takte nur, aber man erkennt in dieser Band, die nach wie vor mit dem so fremden Phänomen des swing zu kämpfen hat, mindestens einen Musiker, der es verstanden hat, der ohrenfällig nicht abliest, sondern seinen Beitrag aus dem Bauch heraus spielt".

SPANNUNG DER UNABHÄNGIGKEIT UND MASCHINENGEWEHR MIT FEINHEITEN

Posaunist Albert Mangelsdorff mit Altsaxophonist Günter Kronberg und Tenorsaxophonist Heinz Sauer | Bildquelle: Reclam Bildquelle: Reclam Man kann Wolfram Knauer dankbar sein für solche Sätze und die dahinterstehenden Analysen, die zeigen, mit welcher wissenschaftlichen Genauigkeit und welcher Vorurteilsfreiheit er bei diesem Buch zu Werke ging. Er lässt sich durch die Aufnahmen davon überzeugen, dass es durchaus schon in frühen Jahrzehnten in Deutschland Jazzmusiker gab, die nicht nur den Gestus der Musik kopierten, sondern auch den musikalischen Gehalt durchdrungen hatten. Und überzeugt die Leser jeweils mit - dies aber auch mit Feststellungen, die zeigen, wo der Jazz made in Germany noch deutlich den amerikanischen Vorbildern hinterherhinkte. Der Titel "Play yourself, man!" ist abgeleitet von den Ratschlägen, die amerikanische Musiker Europäern gaben, die von ihnen lernen wollten. Und gerade Musiker wie der Frankfurter Posaunist Albert Mangelsdorff profitierten von diesen Ratschlägen, als sie in der Zeit nach 1945 ihre eigene Identität in dieser amerikanischen Musik suchten, die fortan für die wiedergewonnene Demokratie stand. Über Schlüsselwerke wie Albert Mangelsdorffs 1963 entstandenes Album "Tension", das gemeinhin als Unabhängigkeitserklärung des Jazz aus der Bundesrepublik gilt, kann man in Knauers Buch eingehende Analysen lesen. Besonders spannend sind seine Betrachtungen zu dem Album "Machine Gun" des Saxophon-Bürgerschrecks Peter Brötzmann von 1968, eine Aufnahme, deren Musik so wild und gewalttätig ist wie ihr Titel. Aber auch da stellt Knauer Dinge fest, die deutlich unter die Oberfläche reichen: "Da gibt es Solopassagen, Bläsertutti, ja fast tonal wirkende Ritornelle, klare thematische Partien sowohl in den rahmenden 'Maschinengewehrsalven' als auch in zwei Riff- bzw. Rhythm’n’Blues-Passagen im letzten Viertel der Aufnahme." Eine deutliche Aufforderung zum genaueren Hinhören – und eben nicht zum Abhaken von Phänomenen nach der "Kenn ich schon"-Devise.

DIE WERKTÄTIGEN UND DER KLASSENFEIND

Geradezu aufregend sind Knauers Ausführungen zum Jazz in der DDR. Dort gab es je nach der Phase, in der sich das politische Regime befand, ablehnende oder befürwortende Reaktionen auf den Jazz. Mal repräsentierte der Jazz die unterdrückten Minderheiten des kapitalistischen Systems zumal in den USA, mal war er schlicht der Klang des Klassenfeindes. Der Polizeipräsident von Chemnitz fühlte sich 1947 bei Tanzabenden mit jazziger Musik "an die Tänze von Menschenfressern" erinnert. Der Orchesterleiter Karl Walter erhielt 1953 zeitweilig ein Auftrittsverbot, da seine Musik "nicht den Bedürfnissen der großen Masse der Werktätigen unserer DDR" entspreche. Später änderte sich das Bild, in den 1960er Jahren tourten etwa die All Stars von Louis Armstrong durch die DDR, auch westdeutsche Musiker wie Albert Mangelsdorff und das Orchester Kurt Edelhagen gastierten im Osten Deutschlands. Seit 1962 erschien beim volkseigenen Label Amiga die erste mit "Jazz" bezeichnete Platte, Musiker wie der Saxophonist Ernst-Ludwig Petrowsky wurden bekannt - und nicht zuletzt wuchs in der DDR eine Ausnahmebegabung wie der Pianist Joachim Kühn heran, der allerdings 1966 nach einem Wettbewerb im Westen blieb. In den 1970er Jahren schließlich entstand in der DDR eine ganz eigene Ausprägung des Free Jazz mit Gruppen wie "Synopsis" (später unter dem beziehungsreichen Namen "Zentralquartett" bekannt). Dieser Free Jazz aus dem Osten Deutschlands, der, so Knauer, "ein ähnliches Vokabular wie der Free Jazz im Westen benutzte, dieses aber nach einer anderen Grammatik verwandte", wurde dann sogar zum Exportartikel eines Staates, der hoffte, dass der gute Ruf, den Avantgardemusiker aus der DDR im Westen genossen, auf ihn zurückstrahlte.

AN DER RICHTIGEN ADRESSE

Leiter des Jazzinstituts Darmstadt Wolfram Knauer | Bildquelle: Roland Spiegel Bildquelle: Roland Spiegel Wolfram Knauers Stil nicht erst in diesem Buch ist wohltuend klar und verzichtet auf sprachliche Effekthascherei. Der Autor versteht es dabei, auch komplexe Zusammenhänge und detaillierte Analysen so zu formulieren, dass kein Leser ein Jazz-Fachmann sein muss, um alles Wesentliche zu verstehen, ja nicht einmal Musik-Spezialist. Und dennoch kriegen die Fachleute durch Knauers Ausführungen genug Futter. Das ist ein Balance-Akt, der selten so gut glückt. Je mehr der Autor in die Gegenwart vorstößt, desto punktueller muss er eine Auswahl aus immer reichhaltiger werdendem Material treffen. Garantiert hat mancher Leser zuweilen andere Präferenzen, was die Auswahl der aktuell aktiven Jazzmusiker aus Deutschland betrifft. Was Knauer aber etwa über "die ästhetische Neugier" des Pianisten Michael Wollny schreibt, über die hohe Intensität in der Musik der Saxophonistin Angelika Niescier, wie er den Trompeter Till Brönner als Ausnahme-Virtuosen charakterisiert, der dennoch von der Szene häufig nicht "als einer der ihren" angesehen werde: Das alles gibt ein aufschlussreiches und gut sortiertes Bild auch des in Deutschland erlebbaren Jazz des frühen 21. Jahrhunderts ab. Zudem handelt Knauers Buch außer von Musikern auch von Initiativen - also von gemeinnützigen Vereinen und ihrer Leidenschaft für die Musik – und nicht zuletzt auch von Labels wie dem eben erst 50 Jahre alt gewordenen Münchner Plattenverlag ECM, der eine weltweit bedeutende Rolle spielt und nicht zuletzt Künstler wie Keith Jarrett davon überzeugte, die richtige Adresse für besondere Musik zu sein.

ERMUTIGUNG ZUM NOCH GENAUEREN HINHÖREN

Ein reichhaltiges Buch, das den Horizont in viele Richtungen erweitert und durch die bescheidene Haltung des Autors nicht zuletzt dazu ermuntert, bei historischer und aktueller Musik noch genauer hinzuhören - und eines, das Seite für Seite klarmacht, dass Jazz stets ein "Sound of Surprise" war, der der Welt auch heute noch viel zu sagen hat.

Sendung auf BR-Klassik:

19. Dezember 2019: All that Jazz
"Play yourself, man!" Gespräch mit Wolfram Knauer, dem Autor eines umfassenden und zu Recht viel gefeierten Buchs über die Geschichte des Jazz in Deutschland. Mit Musik, die Wolfram Knauer auswählt.
Moderation: Roland Spiegel

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