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Kostprobe | 26.09.2021 Swithun! Dämonen und Wunder von Winchester

Erzählungen und Legenden aus dem Mittelalter gibt es viele. Aber die Musik dazu? Es ist ein kniffeliges Puzzle, die notierten Erinnerungsstützen zu entziffern und in Klang umzusetzen. Das Ensemble Dialogos hat sich den englischen Heiligen Swithun vorgenommen und verbindet frühe Polyphonie auf aktuellem Forschungsstand mit Eigenkompositionen.

CD-Cover: Swithun! Demons and Miracles from Winchester around 1000 | Bildquelle: © Outhere

Bildquelle: © Outhere

Eine wahre Mammutaufgabe war das, der sich die britische Musikwissenschaftlerin Susan Rankin gestellt hatte. Sie brachte 2007 eine Faksimile-Ausgabe des berühmten Winchester Tropar heraus, mit einer vollständigen Übertragung aller darin enthaltener Organa. Weit über zehn Jahre hat sie daran gearbeitet. Susan Rankin ist auch die wissenschaftliche Beraterin der neuen CD vom Ensemble Dialogos, die die Geschichte des heiligen Swithun von Winchester erzählt.

Mittelalterliche Mehrstimmigkeit

Das Winchester Tropar ist eine der frühesten Sammlungen mittelalterlicher Mehrstimmigkeit. Die zweistimmigen Stücke aus Choralmelodie und Begleitung wurden in Neumen notiert. Lange Zeit hielt man es für kaum möglich, mehr als eine spekulative Interpretation zu erstellen. Inzwischen gibt es jedoch viele Anhaltspunkte und Querbezüge, die eine solide Basis für eine Übertragung bilden. Die Umsetzung in klingenden Gesang ist dann die nächste Hürde, und dafür ist Katarina Livljanić Expertin. Sie wurde im letzten Jahr die Nachfolgerin von Dominique Vellard an der Schola Cantorum in Basel und ist schon seit langem erfolgreich mit ihrem in Paris ansässigen Vokalensemble Dialogos.

Heiligengeschichte von Swithun

Was die Orientierung innerhalb dieser prall gefüllten CD zunächst erschwert, ist die Tatsache, dass bei weitem nicht alle Stücke mittelalterliche Originale sind. Nur sieben von insgesamt 23 Tracks stammen wirklich aus dem Winchester Tropar. Die anderen sind Vertonungen von literarischen Beschreibungen der Heiligengeschichte von Swithun, verfasst von den etwas nach ihm lebenden Wulfstan und Aelfric. Und die Komponistin ist Katarina Livljanić selbst. Sie fertigt bewusst keine Stilkopien an, sondern verpflanzt diese Tonsprache, mit der sie wie verwachsen scheint, ins 21. Jahrhundert. Dissonanzen etwa bleiben gerne unaufgelöst stehen und die auf angelsächsisch verfassten Textstellen von Alfric sind Sprech-Parts. Das ist einer lebendigen und abwechslungsreichen Erzählung zwar zuträglich, der Musik um das Jahr 1000 herum aber natürlich völlig fremd.

Perlen des frühesten europäischen Repertoires

In diesem musikalischen Erzählfluss gehen die authentischen Stücke ein wenig unter. Und das ist sehr schade, denn es sind beeindruckende Beispiele für eine polyphone Musizierpraxis immerhin gut zwei Jahrhunderte vor der Notre Dame-Schule. Beispielsweise die Dissonanzbehandlung und die Parallelbewegungungen werden mit viel Feingefühl und großem praktischen Sachverstand umgesetzt. Die Ausgewogenheit der Stücke und ihre künstlerische Aussagekraft sprechen für sich. Das sind wahre Perlen des frühesten europäischen Repertoires, die uns das Ensemble Dialogos hier meisterlich darbietet.

Swithun! Demons and Miracles from Winchester around 1000

Anonymus; Katarina Livljanić
Ensemble Dialogos: Christel Boiron (Singstimme), Clara Coutouly (Singstimme), Caroline Gesret (Singstimme), Katarina Livljanić (Singstimme) (Leitung)
Label: Outhere

Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 26. September 2021, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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