BR-KLASSIK

Inhalt

Countertenor "Die Stimme, die gegen den Tenor steht"

Heute sind Countertenöre die Stars auf unseren (Opern-)Bühnen. Gegeben hat es sie eigentlich immer, doch waren sie lange von den Kastraten verdrängt, bis ein Engländer diese alte Gesangstechnik wieder belebte.

Countertenor Andrew Watts | Bildquelle: picture-alliance/dpa

Bildquelle: picture-alliance/dpa

Für die Freunde der Alten Musik mag bei dem Song "Total eclipse" von Klaus Nomi die musikalische Umrahmung das Befremdliche sein. Für Freunde der Popmusik die Stimme des Sängers. In der Alte-Musik-Szene gilt eine hohe Männerstimme mittlerweile als normal. In der Popmusik dagegen ist sie heute noch genauso ungewöhnlich wie in den 80er Jahren, als der Sänger mit musikalische Hörgewohnheiten durchbrach.

WIEDERENTDECKUNG UND NEUDEUTUNG IM 20. JAHRHUNDERT

Die Bezeichnung "Countertenor" stammt vom italienischen "contra-tenore" und bedeutet "die Stimme, die gegen den Tenor steht", also die Oberstimme. Männer, die mit ihrer hohen Kopfstimme singen, gab es über viele Jahrhunderte hinweg, bis sie zu Beginn des 17. Jahrhunderts von den Kastraten verdrängt wurden. Einzig in den englischen Kirchenchören überlebte die Tradition des "male alto", des männlichen Altisten ohne Unterbrechung bis in unsere Tage. Und so verwundert es im Nachhinein gesehen nicht, dass der erste moderne Countertenor aus England stammte. Alfred Deller schrieb nach dem 2. Weltkrieg bis in die 70er Jahre hinein Musikgeschichte.

WEGBEREITER ALFRED DELLER

Mittlerweile gibt es etliche Countertenöre, die Starruhm genießen, und jeder dieser Sänger hat seine ganz individuelle Mischung aus Kopf- und Brustresonanz. René Jacobs, Paul Esswood, Jochen Kowalski, Andreas Scholl, Jörg Waschinski oder Philippe Jaroussky. In der modernen Tradition des Countergesangs hat sich viel verändert. Technik, Repertoire, Selbstverständnis. So wendet der derzeit erfolgreichste Countertenor, Philippe Jaroussky, zwar dieselben Gesangstechniken an wie seine Kolleginnen, doch den Klang seiner Stimme möchte er auf keinen Fall als "weiblich" beschreiben.

"Ich glaube, der Grund, warum die Leute Countertenorstimmen mögen, das ist, dass wir in dieser Stimme noch ein Kind, ein großes Kind, hören können, zumindest in meiner Stimme. Viele Mütter sind Fan von mir, weil sie das Gefühl haben, sie könnten meine Mutter sein."

WEIBLICH? MÄNNLICH? MAGISCH?

Man kann heute davon ausgehen, dass niemand mehr hinter vorgehaltener Hand von Eunuchen spricht, wenn ein Countertenor singt. Dennoch: eine hohe Männerstimme strahlt immer eine eigenartige Magie aus. Etwas, das es nur auf der Bühne gibt und wofür besonders weibliche Zuhörer empfänglich sind, so der berühmteste deutsche Countertenor Andreas Scholl:

"Die Stimme ist nicht bedrohlich. Der Tenor, der sein hohes C mit Kraft und auch sehr laut singt, oder ein Bariton - das entspricht dem männlichen Ideal. Die Maskulinität, die Stärke, Virilität. Der Countertenor will das gar nicht versuchen und wirkt dadurch weniger bedrohlich. Ich glaube, darum kommt auch der Countertenor insgesamt schneller und intensiver in Kontakt mit weiblichen als mit männlichen Zuhörern."

Sendungsthema aus "Forum Alte Musik" vom 20. Juni 2020, 22.05 Uhr auf BR-KLASSIK

    AV-Player