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Graduale Chorbuch, Gesang und Liturgie

Das Graduale - was war das noch? Ein Chorbuch, oder? Und war da nicht auch noch so ein Choral...? Ein multifunktionaler Begriff!

Zwettl, Niederösterreich: Zisterzienser-Stift. Stiftsbibliothek. Mönche beim Chorgesang | Bildquelle: picture-alliance/dpa

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"Das Graduale ist zum einen ein Buch mit Messgesängen aus dem Kirchenjahr, aus dem Proprium Missae, das heißt, das sind nicht die feststehenden Messgesänge wie Kyrie, Gloria und Agnus Dei, sondern wechselnde Gesänge."

erklärt Sabine Lutzenberger, ihres Zeichens Sängerin und Mittelalterspezialistin eine Bedeutung des Graduale - nämlich die als Chorbuch. Dann wird der Begriff aber auch noch als Eigenname für ganz bestimmte Chorbücher verwendet. Spricht man etwa mit einem katholischen Kirchenmusiker über das Graduale, so handelt es sich gewöhnlich um das Graduale Romanum, das wichtigste Chorbuch der katholischen Kirche.

Lutzenberger: "Also im Graduale findet man verschiedene Messgesänge, zum Beispiel Introitus, oder eben auch das Graduale und andere, die sich im Kirchenjahr verändern"

Gesang und Teil der Liturgie

Und damit wären wir schon bei der nächsten Bedeutung des Wortes: Das Graduale ist nicht nur ein Buch, sondern als Teil der Messe auch ein eigener Gesang. Hier gehen die Wurzeln des Begriffs vermutlich zurück bis ins frühe Mittelalter: Seit dem 4. Jahrhundert sind Psalmengesänge zu den alttestamentarischen Lesungen belegt - und das Graduale als eigenständiger Teil der Liturgie entwickelte sich aus einem von Kantor und Gemeinde abwechselnd gesungenen Psalm. Heute nennt man es in der katholischen Liturgie daher auch meist schlicht Antwortpsalm; für die protestantische Liturgie setzte Luther ein auf die Lesung bezogenes Gemeindelied an die Stelle des Graduale. Das traditionelle Graduale hatte aber immer eine besondere Eigenschaft, erläutert Sabine Lutzenberger:

"Das Graduale ist ein wechselnder Gesang, ein Choral, der ist meistens sehr verziert, der nicht unbedingt in der großen Menge gesungen wird, sondern eher von Solisten. Das heißt, reich an Melismen, der Modus ist nicht einfach, wie in anderen Gesängen, die Tutti gesungen werden."

Ethymologie und Entwicklung

Übrigens: Seinen Namen erhielt dieser Gesang wohl von dem Ort, an dem er ursprünglich gesungen wurde: auf einer Stufe - lateinisch gradus - vor dem Ambo. Im 12. und 13. Jahrhundert begann man, diesen usprünglich einstimmigen Choralgesang auch mehrstimmig zu vertonen, gewöhnlich im Quintorganum. Die Melodien wurden immer komplexer, und damit auch die Modi, quasi der Tonvorrat der Gesänge. Das machte diesen Gesang bei Komponisten und Sängern äußerst beliebt, erzählt Sängerin Lutzenberger:

"Die Profisänger singen natürlich gerne die komplizierteren Stücke und spannend ist der Modusverlauf, der Melodieverlauf. Diese schönen Melodien, die muss man erst mal vom Modus her verstehen und das macht natürlich sehr viel Spaß, wenn die Melodien besondere Wege gehen."

Doch wer jetzt glaubt, man habe es beim Graduale mit einer rein mittelalterlichen Erscheinung zu tun, liegt ziemlich falsch: bis heute ist es ja fester Bestandteil der Liturgie in der römisch-katholischen Messe - und jeder Kirchgänger hört es immer wieder. Wenn auch die Komponisten im Laufe der Jahrhunderte ein wenig vom Modell des Quintorganum abrückten; man denke nur an Anton Bruckners Locus iste - ein astreines Gradualestück...

Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 17. September 2017, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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