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Winchester Troparium Eine der ältesten praktischen Quellen mehrstimmiger Musik in Europa

Es ist zwar gut erforscht, wird aber wohl für immer auch Rätsel aufgeben: das Winchester Troparium, in dem die Musik aufgeschrieben wurde, die vor über 1.000 Jahren am Münster in Winchester gesungen wurde.

Kathedrale von Winchester | Bildquelle: © Antony McCallum

Bildquelle: © Antony McCallum

Ein Troparium ist eine Sammlung von geistlichen Gesängen, die in diesem Fall aus zwei Bänden besteht, seinerzeit am Münster der südenglischen Stadt Winchester zusammengetragen wurde und 174 Stücke für zwei Stimmen enthält. Soweit man heute weiß, das erste Mal überhaupt, dass mehrstimmige Musik schriftlich festgehalten wurde.

FRÜHESTE BEWEISE MEHRSTIMMIGER KOMPOSITIONEN

Henry Hope, Mediävist und Musikwissenschaftler, der am Magdalenen College in Oxford lehrt, erklärt:

"Forscher gehen weitestgehend davon aus, dass es sich beim Winchester Troparium um ein Cantatorium handelt, dass es das Buch des Kantors selbst ist, als Sammlung von Dingen, die der Kantor kennt, zu denen er nochmal zurückkommen kann. Beide Bände wurden etwa um das Jahr 1000 geschrieben. Gerade zu dieser Zeit geht es darum, das Choralrepertoire zu festigen, das Ganze nochmal zu sammeln und Revue passieren zu lassen – festzuhalten: das sind die Sachen, wie wir sie im Moment praktizieren."

Der Kantor, der die Niederschrift des Tropariums anregte, war möglicherweise ein Mönch namens Wulfstan (Wulferus, Wulfstan the cantor), der um die Wende zum 11. Jahrhundert am Münster von Winchester wirkte. Vermutlich stammen einige der Stücke von ihm. Aber die Forschung geht heute davon aus, dass er jedenfalls die meisten nicht selbst aufgeschrieben hat. Denn das Manuskript entstand erst nach seinem Tod und es sind auch unterschiedliche Schreiberhandschriften zu erkennen.

NEUMEN – FÜR HEUTIGE MUSIKER NUR UNGENAU NOTIERT

Notiert sind die Stücke in Neumen, kleinen Zeichnen, die über dem Text stehen.

"Diese Neumen-Aufzeichnungen können wir gar nicht richtig entschlüsseln, sie haben keine genauen Tonhöhenaufzeichnung, sondern nur ungefähr. Wir können nur sagen, es geht nach oben oder nach unten oder bleibt auf derselben Tonhöhe. Es sind tatsächlich eher, um das nochmal in Erinnerung zu rufen; ach ja, so ging dieses Stück." Henry Hope

Die Mehrstimmigkeit besteht dabei hauptsächlich in so genannten Quartorgana, mit Variationen.

DAMALS NORMAL, FÜR HEUTIGE OHREN UNGEWOHNT: QUARTPARALLELEN

"Es gibt als Grundlage die bekannte Choralmelodie, und darauf aufbauend singt dann die 2. Stimme in Quarten dazu parallel und etwas ornamentiert, dass es dann auch mal Terzen und andere Intervalle gibt, oder Quinten. Und dann mit vielen Kadenzen, so genannten Occursus durchbrochen, wo die Parallelen dann wieder zusammenlaufen, in den Einklang." Henry Hope

Allerdings sind im Winchester Troparium die beiden Stimmen nicht direkt übereinander, also in Partitur notiert, sondern sie stehen an verschiedenen Stellen des Manuskripts. Und interessanterweise hat man dabei zwar die ursprünglichen Choralmelodien mit Texten versehen, die neukomponierten, die Organalstimmen jedoch nicht. Warum auch? Die damaligen Sänger konnten Originalmelodien und -Texte dieser 174 gregorianischen Gesänge auswendig.

Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 30. November 2014, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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