Nicht die Brandenburgischen Konzerte machten Johann Sebastian Bach zu Lebzeiten berühmt. Nein, es waren seine Beine. Die Leute kamen von weit her, um den Mann mit den fliegenden Füßen zu sehen.
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Was ist dieser Bursche in seinen jungen Jahren gelaufen! Während andere Organisten gemütlich auf ihrem Orgelbänkchen hockten, wanderte Bach unermüdlich durch Nord- und Ostdeutsche Lande, um seinen Wissensdurst zu stillen. Er wollte von den berühmtesten Musikern, Organisten und Orgelbauern, die er erreichen konnte, lernen. Dafür war ihm kein Weg zu weit, kein Wetter zu schlecht. 40 Kilometer waren es regelmäßig zwischen Ohrdruf, wo Johann Sebastian Bach bei seinem Bruder lebte und einer großen Orgel in Eisenach. 350 Kilometer bis nach Lüneburg. Von Lüneburg nach Hamburg 60 Kilometer, 90 Kilometer bis nach Celle. Immer nur den Hinweg gerechnet. Bach marschierte alle Strecken zu Fuß. Geld für Fahrten mit der Postkutsche sparte er sich, denn Schlammlöcher und häufige Achsenbrüche machten die Reise mit ihr auch nicht unbedingt schneller. Außerdem schätzte Bach die Freiheit beim Wandern. Wo immer er wollte, konnte er Halt machen - und das kam oft vor. Bach war es nämlich unmöglich, an einer Kirche vorbeizugehen, ohne deren Orgel auszuprobieren. Orgeln waren für ihn technische Wunderwerke, die er mit Wonne auseinandernahm und studierte. Bach war ein echter Freak, der sich mit Labien, Mixturen, Registern und Schalltrichtern bald besser auskannte als jeder andere. Das sprach sich herum.
In Arnstadt hatte der Gemeinderat ein Problem. Der dortige Organist weigerte sich, die neugebaute Orgel in der Sankt Bonifazius-Kirche abzunehmen. Seine Begründung: Die Orgel spiele nicht, wie sie solle. Orgelbauer Wender, ein erfahrener Meister, war empört und erhob Einspruch. Der Streit drohte zu eskalieren. So suchte der Rat einen neutralen Gutachter und bat Johann Sebastian Bach, sich die Orgel anzusehen. Wender, ein 48-jähriger gestandener Mann lehnte das 19-jährige Bürschchen, das seine Orgel begutachten sollte, rundweg ab. Doch Bach machte sich ungerührt an die Arbeit. Von Minute zu Minute wuchs Wenders Respekt. Bach prüfte seine Orgel nach allen Regeln der Kunst, ersparte ihm nichts und befand schließlich: "Die Orgel ist ein Meisterwerk!" Dann setzte er sich davor und spielte. Rat und Orgelbauer waran so beeindruckt, dass sie den alten Organisten feuerten und Bach vom Fleck weg engangierten.
Paradiesische Zeiten hätten nun anbrechen können, doch leider stürzte sich Bach voll Engagement in seine neue Arbeit. Er gründete sogleich einen Chor mit den Schülern des Arnstädter Gymnasiums. Ein Fehler, wie sich bald herausstellen sollte. Denn seine Sänger waren allesamt Söhne wohlhabender Handwerker und Kaufleute, also einflussreicher Eltern. Die Sprösslinge wussten, was sie sich leisten konnten und bildeten eine gefürchtete Bande. Bach, der nicht älter war als sie, glaubte sich ihnen gewachsen. Anfangs lief auch alles bestens. Der Chor trat regelmäßig in der Kirche auf und die als unbezähmbar geltenden Randalierer verbesserten gewaltig ihr Image. Bach war ein Held. Doch dann begann er höhere Ansprüche zu stellen. Aus Spaß am Singen wurde Ernst und das passte den Schülern überhaupt nicht. Sie streikten. Bach war aber fest entschlossen, sich durchzusetzen. In seinem Zorn nannte er einen der Rädelsführer "Zippelfagotist". Eine ungeheure Beleidigung, die in den Ohren des so Titulierten nach Rache schrie.
Füße des jungen Johann Sebstian Bach an der Orgel | Bildquelle: picture alliance / akg-images
In der Nacht legte er sich mit fünf seiner Kumpanen auf die Lauer. Bach war vom Reichsgrafen zum Konzert gebeten und mit seinem Geigenköfferchen nichts ahnend auf dem Heimweg. Die Rowdies traten mit Knüppeln bewaffnet hinter dem Busch hervor und kreisten Bach drohend ein. Sechs gegen Eins - keine Chance - dachten sie und hofften, ihrem Chorleiter einen gewaltigen Schreck einzujagen. Bach hatte sich in Schale geworfen und trug Hoftracht zu der auch ein Galanterie-Degen gehörte. Vertrauend auf seine durchtrainierten Beine, zog Bach beherzt den Degen und schlug die völlig überraschten Angreifer, die nicht mit seinem Mut gerechnet hatten, in die Flucht.
Tags darauf zeigte Bach den Vorfall an. Doch nicht die Schläger wurden gemaßregelt, sondern Bach. So ließ das reichsgräfliche Konsistorium verlauten: "Der Organist Johann Sebastian Bach wird ersucht, die musikalische Unterweisung der Gymnasiasten auf der Stelle in gemäßigter Form wiederaufzunehmen." Bach wurde schlagartig klar: Gegen den Arnstädter Klüngel war er machtlos. Seine Motivation sank rapide, er reichte Urlaub ein. Vier Wochen wurden ihm genehmigt. Es war Ende Oktober, als Bach sich dann auf den längsten Fußmarsch seiner Karriere machte. 400 Kilometer nach Lübeck über den unwirtlichen Harz, in einer Zeit, in der die Tage immer kürzer, kälter und nässer wurden. Bach wusste, dass ein Monat Urlaub für diese Reise niemals reichen würde, aber das war ihm - nach allem, was er erlebt hatte - herzlich egal. Er wollte in Lübeck den damals bekanntesten Organisten Dietrich Buxtehude besuchen und dessen berühmte Abendkonzerte im Advent miterleben.
Drei Monate blieb Bach bei Buxtehude und erlebte mit großer Bewunderung, was dieser Virtuose aus einem kirchlichen Amt zu machen verstand. Buxtehude war 69 und wollte sich zur Ruhe setzen. In dem hochtalentierten Bach sah er einen geeigneten Nachfolger und bot ihm seine Stelle an. Ein Traumjob. Denn die Lübecker Kaufleute waren echte Mäzene und wussten die Kunst eines Orgelvirtuosen zu schätzen. Sie kamen in die Kirche, um Musik zu hören und beschwerten sich nicht - wie die Arnstädter - über zu lange Vorspiele. Sogar ein eigenes Haus hätte Bach beziehen können. Bach schwebte auf Wolke sieben, doch dann folgte die Ernüchterung. Der Job war mit einer Bedingung verknüpft: Bach sollte Buxtehudes älteste Tochter heiraten. Sie war 30 Jahre alt und von stattlichem Umfang. Bach war gerade erst 20 und musste nicht lang überlegen. Er nahm seine Beine in die Hand und machte sich noch im Winter, durch Schnee und Kälte auf den 400 Kilometer langen Rückweg. So dankbar wie damals war er seinen tapferen Beinen noch nie.