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Die Komponistin Francesca Verunelli "Musik ist die Schrift der Zeit"

Sie gilt als eine der derzeit vielversprechendsten jungen Komponistinnen - am 22. Januar gibt Francesca Verunelli mit "The Narrow Corner" ihr Debüt bei der BR-Konzertreihe musica viva. Robert Jungwirth hat sich vorab mit der 36-jährigen Italienerin unterhalten.

Komponistin Francesca Verunelli | Bildquelle: Jean Radel

Bildquelle: Jean Radel

BR-KLASSIK: Sie haben einmal gesagt, dass Sie, wenn Sie komponieren, Zeit erzählen wie in einem Roman. Gibt es auch so etwas wie Handlung in Ihrer Musik?

Francesca Verunelli: Ich habe zwar die Metapher der Literatur benutzt, um meine Absicht zu erklären, aber die Bedeutung der Zeit in der Musik ist etwas sehr Spezielles. Das kann man überhaupt nicht mit einer Geschichte vergleichen. Komponieren heißt, Zeit zu schreiben.  "L´écriture du temps" - Musik ist die Schrift der Zeit. Man benutzt Klänge, um Zeit und das Erlebnis  "Zeit" zu konstruieren. Es geschieht nicht andersherum. Man packt nicht Klänge in einen bestimmten zeitlichen Ablauf. Ich habe dieses Bild einer Erzählung nur verwendet, um eben diese Idee zu beschreiben. Zeit in der Musik unterscheidet sich fundamental von jeder anderen Manifestation von Zeit. In der Musik gibt es nur diese spezielle Art, Zeit zu schreiben, darin liegt die Faszination.

BR-KLASSIK: Das heißt aber doch, dass Kategorien wie Entwicklung, Verlauf, Dramaturgie eine wichtige Rolle in Ihrer Musik spielen?

Francesca Verunelli: Natürlich kann man einige dieser Elemente als Metaphern verwenden. Komponieren unterscheidet sich aber grundlegend von allen anderen Kunstformen. Selbstverständlich gibt es eine Form, und man kann auch von einer Konstruktion und einer Art Verlauf oder Prozess sprechen. Genauso wie es eine Zeiterfahrung für den Zuhörer gibt. Doch das alles ist nicht auf einen anderen Bereich, wie zum Beispiel das Theater übertragbar.

BR-KLASSIK: Sie haben bereits mit 15 Jahren gewusst, dass Sie Komponistin werden wollen. Warum war das so klar für Sie?

Francesca Verunelli: Ich weiß nicht, ob mir das damals schon ganz klar war. Ich liebte die Musik sehr und wollte selbst das erschaffen können, was mich als Zuhörerin so tief berührt hat. Es ist ganz natürlich, dass man selbst aktiv werden möchte, wenn einen etwas sehr bewegt. Man hört etwas als passiver Zuhörer und will selbst etwas produzieren - aktiv werden. Damals habe ich jedoch noch nicht daran gedacht, eine professionelle Komponistin zu werden.

BR-KLASSIK: Vielfach erhalten Sie Aufträge für Kompositionen von Ensembles und Orchestern. Da gibt es dann ja meist auch entsprechende Vorgaben für die Besetzung und die Länge eines Werks. Empfinden Sie das als Einschränkung oder ist es eher eine Inspiration?

Francesca Verunelli: Ich denke, eher Letzteres trifft zu. Zunächst einmal sind wir zeitgenössischen Komponisten an solche Bedingungen gewöhnt. Ein Teil unserer kreativen Arbeit besteht auch in der Umsetzung bestimmter Vorgaben zur Instrumentierung und der Dauer. Zunächst beschäftige ich mit den übergeordneten Aspekten wie Harmonik und Form – mit sehr prinzipiellen Fragen. Wenn ich dann den konkreten Rahmen für die Komposition kenne, müssen diese prinzipiellen Ansätze mit der spezifischen Realität konfrontiert werden. Dieses Zusammentreffen hilft mir sehr. Denn so können alle meine Ideen, die in mir über Jahre hinweg gereift sind, auf fruchtbaren Boden fallen und Gestalt annehmen. Die Umsetzung dieser Ideen fällt jedes Mal anders aus, weil auch dieser  "Boden" immer ein anderer ist.

BR-KLASSIK: Ihr neues Werk "The Narrow Corner" entstand für die musica viva des Bayerischen Rundfunks und für das Orchestre Philharmonique de Radio France. Was bedeutet der Titel?

Francesca Verunelli: Der schmale Winkel ist eine Erzählperspektive, eine Art paradoxer Perspektive auf eine Szene. Aus dieser Perspektive entwickelt sich eine elliptische Erzählung, deren Bestandteile sich konstant verändern – dem Winkel entsprechend, den die Erzählperspektive nach und nach schafft. Dem Zuhörer eröffnen sich während der akustischen Entdeckungsreise durch die fünfmalige Wiederholung fünf unterschiedliche Ansichten ein und desselben Ortes. Von Mal zu Mal verhindert die Erzählperspektive – ein schmaler Winkel – jedoch eine eindeutige Interpretation und fordert die Phantasie des Zuhörers auf unterschiedliche Weise. Die Form ist letztlich nicht linear, sondern eher elliptisch; sie bietet unterschiedliche zeitliche Perspektiven.

BR-KLASSIK: Auch in Ihrem mit einem Kompositionspreis ausgezeichneten Werk "Graduale, disambiguation" geht es um veränderte Wahrnehmungen eines musikalischen Gedankens, der in verschiedenen Kontexten und aus verschiedenen Winkeln – corners - betrachtet wird. Das Orchesterwerk wurde 2014 vom Luzerner Symphonieorchester sehr erfolgreich uraufgeführt. Das heißt aber auch, dass Sie einen sehr aufmerksamen Zuhörer für Ihre Musik erwarten. Fordern Sie einen analytischen Hörer?

Francesca Verunelli: Ich werde es jetzt zunächst einmal sehr vereinfacht darstellen, was dem Thema aber vielleicht nicht ganz gerecht wird. Strikt in Schwarz und Weiß getrennt, gibt es zwei Arten von Musik: eine, bei der man sie in passiver Weise wahrnimmt – als eine Erscheinung. Und es gibt Musik, bei der man mitdenken muss, die man auf aktive Weise erfassen muss, indem man genau verfolgt, was passiert. Ich finde die Idee des involvierten Zuhörers faszinierend – die Idee, dass der Zuhörer mittels seiner ganz persönlichen Erwartungen die Entwicklung der Zeit in der Musik erleben kann.

BR-KLASSIK: Ihre Werke haben mitunter sehr sprechende Titel wie "The famous Box Trick", "Dark Day" oder "Magic Mauve". Gibt es zuerst einen Titel oder einen Begriff und daraus folgt die Musik oder ist es umgekehrt?

Francesca Verunelli: Ich versuche niemals, mit meiner Musik etwas zu illustrieren. Ich schreibe keine Programmmusik – also keine Musik zu einem bestimmten Thema. Mit meinen Titeln versuche ich, den poetischen Gehalt der Musik auszudrücken. Manchmal inspiriert mich auch ein Film oder ein Text. "The Famous Box Trick" ist ein Film von Georges Méliès. Zuweilen stoße ich auf Worte, die im Einklang mit dem Wesen der Musik stehen. Es dreht sich aber nicht um eine direkte, rationale Beziehung zwischen Musik und Titel, eher um eine parallele.

BR-KLASSIK: Also kommt zuerst die Musik und dann der Titel?

Francesca Verunelli: Der Titel kann schon gleichzeitig entstehen, aber er stellt eher eine Art Verdeutlichung der musikalischen Poesie dar. Manchmal habe ich gleich zu Beginn der Komposition eine Vorstellung vom Titel. Dann bin ich mir aber schon über den poetischen Gehalt der Musik ganz im Klaren. Die Musik steht an erster Stelle, sie gibt auch nicht den direkten Inhalt des Titels wieder.

BR-KLASSIK: Sie sagen, Ihre Musik will nicht illustrieren. Wie ist das, wenn Sie einen Text vertonen, bei einem Lied zum Beispiel?

Francesca Verunelli: Ich würde den Text nicht in der Musik  "zitieren ", sondern ihn musikalisch lebendig werden lassen. Es handelt sich eher um Parallelwelten, in denen diese beiden Kunstformen existieren. Texte und Musik funktionieren unterschiedlich. - Ein Text kann nicht buchstäblich in Musik übertragen werden.

BR-KLASSIK: Könnten Sie sich vorstellen, eine Oper zu komponieren?

Francesca Verunelli: Ich glaube, dass für die Komposition einer Oper eine sehr intensive und vertraute Beziehung zum Librettisten und zum Regisseur notwendig ist. Sonst riskiert man, dass das Werk in der Umsetzung verändert wird. Es muss unbedingt ein gegenseitiges Einverständnis über das Werk bestehen. Das heißt, man muss von Anfang eng zusammenarbeiten. Wenn ich jemals auf solche Ausgangbedingungen treffen sollte, sich also eine solche enge Verbindung zu einem Librettisten und einem Regisseur ergibt, dann würde ich durchaus eine Oper komponieren.

BR-KLASSIK: Sie haben für unterschiedlichste Besetzungen, für Streichquartett, Symphonieorchester, für Gesangsensembles oder für Perkussionisten. Gibt es eine bevorzugte Besetzung?

Francesca Verunelli und BRSO Schlagwerk | Bildquelle: Astrid Ackermann Francesca Verunelli mit dem Perkussionisten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks | Bildquelle: Astrid Ackermann Francesca Verunelli: Ich mag Symphonieorchester sehr. Aber auch mit jeder anderen Instrumentierung kann Musik entstehen. Natürlich werden die vorhin erwähnten grundlegenden Ansätze einer Komposition für ein Streichquartett ganz anders umgesetzt als für ein Symphonieorchester. Ich möchte auf keinen Fall immer für die gleiche Besetzung schreiben. Denn verschiedene Besetzungen führen auch zu unterschiedlichen musikalischen Ideen - jede Instrumentierung inspiriert zu einer ganz bestimmten Musik. Es kann natürlich sein, dass man vielleicht mit manchen Instrumentengruppen nicht so gut zurecht kommt. Aber eigentlich gibt es für mich in dieser Hinsicht keine Einschränkungen.

BR-KLASSIK: Gibt es Vorbilder für ihre Art des Komponierens oder zumindest Inspirationen?

Francesca Verunelli: Da gibt es sehr viele unterschiedliche musikalische Einflüsse. Da ich eine klassische Musikausbildung absolviert habe, reichen sie von Monteverdi bis zu Grisey, von der entferntesten bis in die nähere Vergangenheit. Ich habe all diese Musik kennen gelernt, sie ist Teil meiner eigenen musikalischen Ideen. Ich kann keine konkreten Namen herauspicken. Vieles davon hat meine musikalischen Vorstellungen geprägt. Vielleicht existiert in einem Werk ein kleines Detail davon und im nächsten ein anderes. Es gibt sehr viel Musik, die mir sehr wichtig ist. Ich bin eine sehr neugierige Zuhörerin, mich interessiert immer, was in der Musik passiert, egal ob es sich um einen sehr jungen oder einen alten Komponisten handelt – oder um Klänge auf der Straße. Ich höre immer zu und denke immerzu über das Zuhören nach.

BR-KLASSIK: Haben Sie nicht hin und wieder das Bedürfnis, Ihre Werke auch selbst zu dirigieren?

Francesca Verunelli: Die Technik ist beim Dirigieren ein sehr wesentlicher Aspekt. Ich würde mich niemals als Dirigentin versuchen. Ein Dirigent muss eine professionelle Ausbildung absolviert haben, um richtig zu dirigieren. Wenn man vor einem Orchester steht, muss man über eine angemessene Erfahrung verfügen. Ich glaube nicht, dass man alles machen muss. Ich könnte als Dirigentin natürlich etwas über die Musik sagen, aber ich wäre einfach nicht so gut wie ein professioneller Dirigent. Die speziellen technischen Fähigkeiten muss man lernen und weiterentwickeln. Wenn ich vielleicht vor zehn Jahren mit dem Dirigieren begonnen hätte, würde ich es jetzt vielleicht machen. Aber jetzt ist das nicht mehr realistisch. Aber es stimmt, es ist immer schön, mit Dirigenten zusammenarbeiten zu können, die ich gut kenne. Wenn ich mit einem Dirigenten arbeiten kann, der meine Musik kennt und versteht, ist es natürlich ganz anders als mit einem, bei dem das nicht zutrifft.

  Das Gespräch führte Robert Jungwirth für BR-KLASSIK.

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