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Ludwig van Beethoven Streichquartett op. 59 Nr. 1

Beethoven steckte in einer Krise. Er war an einem Gehörleiden erkrankt, außerdem unzufrieden mit seinen Werken. Er verfasste sein berühmtes "Heiligenstädter Testament". Wenig später erfand er sich neu. Ungebrochene Experimentierlust als Programm. Er komponierte und skizzierte, als wolle er die verloren gegangene Zeit aufholen. "Kein Geheimnis sei dein Nichthören mehr – auch bei der Kunst", vermerkte Beethoven schließlich in einer Skizze der Streichquartette Op. 59. Wiebke Matyschok stellt das erste dieser drei Werke vor – gemeinsam mit dem Cellisten Eckart Runge.

Berühmtes Porträt von Ludwig van Beethoven | Bildquelle: © picture alliance/CPA Media

Bildquelle: © picture alliance/CPA Media

Die Sendung zum Anhören

Ein schlechter Scherz? Eine vorlaute Geste im Piano! Ein Cello-Solo zu Beginn eines Streichquartetts! Ein Lied ohne Worte fast, scheinbar beiläufig gesungen, eine verspielte Melodie, heiter und elegant. Doch der neueste Geniestreich aus der Feder eines ertaubenden Komponisten sorgte zunächst bloß für Gelächter. "Als Ignaz Schuppanzigh und sein Quartett das Erste Rasumowsky-Quartett zuerst spielten, lachten sie und waren überzeugt, dass Beethoven sich einen Spaß machen wolle, und es gar nicht das versprochene Quartett sei", sagt der Cellist Eckart Runge. Noch Jahre später empörte Dieses Solo in Moskau einen berühmten Cello-Virtuosen. Vor Zorn riss er bei einer Quartettprobe seine Stimme vom Pult und "trat sie als eine unwürdige Mystifikation mit den Füßen." Unerhört! In Wien – der Stadt des Beethoven-Fiebers – war diese Musik der neugierigen Öffentlichkeit mit ganz anderen Worten angekündigt worden: "Sie sind tief gedacht und trefflich gearbeitet, aber nicht allgemein fasslich".

Wie bekannt, war Beethoven im Rasumowksky'schen Hause sozusagen Hahn im Korbe.
Eckart Runge

Das erste professionelle Streichquartett der Musikgeschichte

Eckart Runge vom Artemis Quartett | Bildquelle: Molina Visuals Der Cellist Eckart Runge | Bildquelle: Molina Visuals Das erste der drei Quartette, komponiert in F-Dur, erklang 1807 zum ersten Mal bei einer Akademie in Wien im neu erbauten Wiener Palais eines adligen Gönners: Fürst Andrei Kyrillowitsch Rasumowsky. Russischer Gesandter, Kunstsammler, ein dilettierender Geiger. Zu seinen Bediensteten zählte bald das erste professionelle Streichquartett der Musikgeschichte – versehen mit einem Vertrag auf Lebenszeit. Der allerdings frühzeitig und unerwartet wegen des Brands des fürstlichen Wohnsitzes in Wien und der nachfolgenden finanziellen Misere aufgelöst werden musste. Später. Vorerst widmete sich das Schuppanzigh-Quartett – nach anfänglichem Gelächter – mit großer Ernsthaftigkeit der Musik Beethovens: den Streichquartetten Opus 59, gewidmet Graf Rasumowsky. Der Komponist war beim russischen Gesandten kein Unbekannter: "Wie bekannt, war Beethoven im Fürstlich Rasumowksky'schen Hause sozusagen Hahn im Korbe", erklärt Eckart Runge. "Alles, was er komponierte, wurde dort brühwarm aus der Pfanne durchprobiert."

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Das Streichquartett – Konversation von "vier vernünftigen Leuten"

Das Flickwerk eines Wahnsinnigen! Verrückte Musik! Roman-Quartette! Die Nachwelt war entgeistert. Beethoven, der Kryptische? "On sent l'orchestre tout le temps", bemerke Romain Rolland einmal über die neuartigen Klangdimensionen, die Beethoven sich in Opus 59 erschlossen hatte: Man höre die ganze Zeit ein Orchester. Ein anderer hatte die Vertonung von Meisterwerken der Weltliteratur von Cervantes, Goethe und Jean Paul aus dem Gedankenspiel solcherart erhaben und tiefsinnig bewegten Geistes klingen gehört. Auch wenn die vermeintlich literarischen Vorlagen des Wiener Klassikers noch gar nicht zu Papier gebracht worden waren. Und Goethe? Dieser Klassiker setzte unter dem Eindruck von Opus 59 eine seitdem viel zitierte Formulierung über das Wesen des Streichquartetts in die Welt: Er höre vier vernünftige Leute sich unterhalten. Welchen Stellenwert die Rasumowsky-Quartette heute besitzen, erklärt Eckart Runge: "Für viele Leute sind diese Werke die Krone seines Schaffens, wo man schon den reifen Komponisten sehen kann, der trotzdem sehr fortschrittlich und modern und durchaus auch experimentell und kühn arbeitet, aber wo alles in einer unglaublich ausgewogenen Form besteht. In den späten Quartetten fängt er an wie irre zu experimentieren, wird total abgedreht und freakig".

Östliches Kolorit als Hommage an den Widmungsträger

Fotokopie einer Lithographie von Josef Lanzedelly der Ältere | Bildquelle: Beethoven-Haus Bonn Fürst Andrei Rasumowsky | Bildquelle: Beethoven-Haus Bonn "Er machte sich anheischig, in jedes Quartett eine russische Melodie einzuflechten", überlieferte ein Freund des Komponisten. Eckart Runge pflichtet bei: "Das hat er eigentlich in allen diesen drei Rasumowsky-Quartetten versucht, irgendwelche russischen Volkslieder hineinzubringen. Das Volkslied ist aber nicht in Reinkultur da, sondern natürlich sublimiert. Es soll ein bisschen das östliche Kolorit mit hineinbringen als Hommage an den Widmungsträger." Klingt auch aus dem Thema des vierten Satz des F-Dur-Quartetts ein russischer Volksgesang? Gefunden hatte Beethoven diese Melodie in einer Sammlung. Er verpflanzte das melancholisch klagende Lied von Moll nach Dur, versah es mit einer neuen Bezeichnung – "Allegro" – und der dazugehörige Text schien wie ausgelöscht. Die mit anklagenden Unterton vorgetragene Geschichte einer traurigen Bojarin. Ihr Sohn war aus dem Krieg im Dienst des Zaren zurückgekehrt – vorzeitig gealtert nicht etwa aus Sorge um Frau und Kind, sondern aus lauter Sehnsucht nach der Heimat. Doch die Texte der russischen Bauernlieder kannte Rasumowsky, der die meiste Zeit seines Lebens fern seiner Geburtsstadt St. Petersburg verbrachte, vermutlich ohnehin nicht. Ausgerechnet eine Affäre mit Wilhelmina Luisa von Hessen-Darmstadt – der späteren Zarin – hatte zu seiner Verbannung geführt. In die Fremde strafversetzt als Gesandter in Neapel, Kopenhagen, Stockholm und Wien, wo er 1797 bereits Beethovens Gönner wurde.

Rasumowsky – Feind der Revolution und Frauenheld?

"Theme russe" –  eine eher nebensächliche Geste des Danks an den adligen Gönner? Als Beethoven die Quartette Opus 59 komponierte, überzogen die napoleonischen Truppen Europa mit Kriegsgeschrei und martialisch lauter Militärmusik. Tausende russische Kriegsgefangene – "arme, elende, ausgehungerte, bemitleidenswerte Geschöpfe" – lagen in den Spitälern Wiens. Beethoven hatte aus Enttäuschung über Napoleons größenwahnsinnige Tat, sich selbst zum Kaiser zu krönen, das Titelblatt der "Eroica" mit der Widmung auf den kleinen Korsen zerrissen. Doch hielt der Komponist sich ansonsten fern von seinem russischen Gönner. Rasumowsky – so munkelte man – war nämlich bekannt als Feind der Revolution und Frauenheld.

Musik-Info

Ludwig van Beethoven:
Quartett für zwei Violinen, Viola und Violoncello F-Dur, op. 59 Nr. 1


Artemis Quartett

Label: Virgin/Warner

Sendung: "Das starke Stück" am 14. September 2021, 19.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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